(Brief an einen Freund)
Mein Freund,
es kommt mir vor, dass immer mehr Menschen ein Scheinleben führen, eingepresst in eine Welt, die zunehmend von Algorithmen bestimmt ist – wo das Individuum fast keine Chance mehr hat. Da hilft nur noch der Rückzug in die wirklich fassbaren Dinge – die eigenen vier Wände. Von daher bist Du nur zu beglückwünschen, wenn es Dir, wie Du zuletzt schriebst, gelungen ist, Dir ein eigenes Heim zu schaffen … Haus, Wohnung oder was auch immer.
Je mehr wir von einer (Schein-) Informationsblase aufgesogen und manipuliert werden, der wir uns kaum mehr entziehen können, desto schmäler wird die Basis, der Damm, der unser tatsächliches Sein ausmacht – und dessen, war wirklich „ist“. Wurde in der Vergangenheit der Orwell’sche totale Überwachungsstaat (George Orwell schrieb sein Buch „1984“ kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs) noch als erschreckende Utopie betrachtet, so hat uns die darin geschilderte „Realität“ schon längst überholt.
In Deinen Ohren mag dies sehr sibyllinisch klingen … in den Ohren von jemandem, der „voll“ mit beiden Beinen im Leben steht. Doch was ist „Realität“? Doch nur das, was wir sehen und hören – und „Realität“ ist nicht gleichzusetzen mit der Wahrheit. Weil wir damit überfordert wären, gleichzeitig alles zu erfassen, kann mit „Realität“ notwendigerweise nur ein Teil der Welt und damit auch nur eine von vielen Wahrheiten gemeint sein.
Doch wer will sich heutzutage schon derart selbst zurücknehmen und sich mit seinem Denken und seinen Handlungen selbst hinterfragen – wo wir doch in der Blase, in welcher wir uns eingerichtet haben, nur von Unterstützern umgeben sind … von Gleichgesinnten, von „Freunden“ … die nur solange unsere Freunde bleiben, wie wir zu ihnen passen. Denn auch sie sind „eingebunden“, haben sich ihr Weltbild zurechtgestrickt – und sind dann irgendwann in ihrem Denken und Tun derart gefangen, dass ihnen gar nichts anderes mehr in den Sinn kommt. Begriffe wie „innere Befreiung“ und „Anderssein“ haben für sie entweder keine Bedeutung mehr oder sie wollen sie in ihrem persönlichen Umfeld nicht gelten lassen – weil sie sonst vielleicht ihre eigene, heile Welt gefährden würden … das, was sie sich aufgebaut haben, vielleicht einen Riss bekommen könnte.
Worte, lieber Freund, gesprochen an einem tristen Morgen, an dem sich die Strähnen der Regenschleier vor mir, beim Blick aus meinem Küchenfenster, vor dem Dunkel des Mammutbaums gegenüber abzeichnen.
Sorry … NOCH positivere Gedanken sind mir momentan nicht möglich. Hoffe nur, dass es mir für den Rest meines Lebens vergönnt ist, meine persönliche „Blase“ noch oft zu verlassen.
Dir jedoch wünsche ich heute viele fröhliche, bunte Gedanken.
Bis demnächst! …