Die Besucherin

Shortstory von Guido Sawatzki

Er ging langsam an der kleinen Gruppe vorbei … doch dieser eine, kurze Moment fühlte sich für sie wie eine kleine Ewigkeit an. Sie erstarrte innerlich. Er erinnerte sie an jenen Moment des Sich-gehen-lassens vor fast drei Jahren, diesen kurzen Augenblick, der von da an doch ihr gesamtes, weiteres Leben beherrschen sollte … sie in seinen Fängen hielt.

Ohne auch nur ein bisschen zu zögern ging er vorbei … Hand in Hand mit einer Frau, vermutlich seiner neuen Partnerin. Der Wimpernschlag eines Innehaltens hätte ihr schon genügt, hätte ihr signalisiert, „du, ich habe dich schon bemerkt, aber ich kann es momentan nicht zeigen, wie du siehst …“. Egal … völlig egal – sie allein wusste, dass fortan allein diese Person, die mit ihm Händchen hielt, die Frau an seiner Seite war. Unwiderruflich.

Sie zwang sich, ihm nicht hinterherzusehen. Auch wollte sie nicht, dass die anderen sich Gedanken machten; verstohlen sah sie zu ihrer Mutti hinüber … zu ihrem Vati, der quasi die Flöhe husten hörte. Dabei drohte ihr Herz zu zerspringen … so, wie jedes einzelne Mal, wenn sie ihre Eltern in dem verschlafenen Nest, in dem sie aufgewachsen war, besuchte. Mal spürte sie es ein bisschen stärker, ein bisschen mehr … selten weniger – dafür umso schmerzhafter. Dabei hatte sie IHN seit damals nur ein einziges Mal wiedergesehen.

Sein Haus und das ihrer Eltern lag in unmittelbarer Nachbarschaft; ihre Eltern hielten sich überwiegend im Erdgeschoss auf, darüber lagen unter anderem die Kinderzimmer. Wenn er wieder mal längere Zeit in seinem Haus lebte, bewohnte er überwiegend die erste Etage. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie zufälligerweise genau in dem Augenblick hinauf zu seinem Zimmer geschaut, als er dort wohl gerade das Licht angemacht hatte. Sie sah ihn dort stehen, bildete sich ein, er würde in ihre Richtung sehen … vielleicht in dem Moment sogar dieselben Gedanken haben, dieselbe, unbeschreibliche Sehnsucht in sich spüren, die sie gepackt hatte … wieder mal. Und das Schlimmste: Sie konnte nichts dagegen tun!

*

Langsam, fast wie in Trance, wandte sich Katharina ihrem Kind zu, das sich dort, auf den Stufen der Holztreppe, die in den Garten führte, auf den Schenkeln seiner Großmutter hin- und herschaukeln ließ. Der Enkel juchzte vor Vergnügen, wenn sich plötzlich die dicken Schenkel unter ihrem weiten Rock öffneten und ihn – so musste er es wohl empfinden – wie in ein tiefes Loch fallen ließen. Aber er wusste ja … konnte das sichere Gefühl haben, dass ihm nichts geschehen würde. Seine Mutter Katharina dagegen sah die Welt wie einen entsetzlich tiefen Krater vor sich. Doch wo war derjenige, der sie auffangen würde?

Ein paar Schritte weiter saß ihr Vater. Etwas linkisch auf dem Rand des alten Sandkastens hockend, den er vor vielen Jahren für seine Töchter gebaut hatte, ließ er seine jüngste Tochter nicht aus den Augen – vor allem in diesem Moment nicht. Wusste er doch, dass sie bis vor zwei Jahren noch häufiger – und meist heimlicher – Gast in dem Haus auf der anderen Straßenseite war … bei eben jenem Mann, der da gerade an ihnen vorbeigegangen war. Seiner Frau hatte er damals die Besuche verschwiegen – um sie nicht zu beunruhigen. Vielleicht hatte er sich ja auch geirrt … oder sah Gespenster?

Nun ja, vor etwa zwei Jahren war schließlich auch der Kleine, ihr heißgeliebter süßer Basti zur Welt gekommen. Dem Großvater wurde das Herz schwer. Er fühlte den Blick seiner Frau auf sich ruhen. Ihm war vollkommen klar, dass sie jetzt erwartete, dass auch er zu ihr hinüberschaute. Er jedoch ließ seinen Blick auf seiner Tochter ruhen. Unverwandt … wie angeklebt. Er fürchtete, dass seine Frau sonst in seinem Blick lesen konnte – vielleicht das lesen könnte, was ihn seit Jahren umtrieb … jedes Mal, wenn seine Lieblingstochter sie besuchen kam. Im fernen Hamburg, dort, wo Katharina wohnte, fragte niemand nach dem Woher oder Wohin – oder gar … Warum?!

Hier aber, in der Provinz, war alles näher … die Menschen, deren Blicke und Mutmaßungen – und vor allem deren Geschwätz. Zum Glück wusste seine Frau nichts von dem, was ihm so manche schlaflose Nacht bereitete. Sie wusste sich gut abzulenken … mit ihrer Passion, den Büchern.

Elses Liebe, das wusste er, war allumfassend, sie machte da keine Unterschiede. Auch den schweigsamen Mann aus dem Haus gegenüber hatte sie in ihr Herz geschlossen – wunderte sich höchstens, dass sie ihn so selten zu Gesicht bekam. Er hatte wohl auch wenig Zeit … bei den vielen Frauen, die da bei ihm ein und aus gingen – kaum, dass er das Haus betreten hatte. Aber das war nicht immer so gewesen … erst, nachdem seine große Liebe ihn verlassen hatte. Ja, das hatte ihn hart getroffen. Wohl auch deshalb zog er immer ganz schnell die Reißleine, sobald es für ihn auch nur den kleinsten Hinweis gab, dass die Zuneigung seiner gegenwärtigen Flamme wieder nur kurze Zeit halten würde. Nein, das Verlassenwerden, das konnte er nicht aushalten. Er war nicht der Typ, der so etwas einfach wegsteckte – dazu war er viel zu verletzlich.

Ein Mal, ein einziges Mal, hatte er sich im Gespräch mit ihr geöffnet; hatte Else, wie sie ihrem Mann später berichtete, durch einen winzigen Spalt in sein Innerstes blicken lassen. Seitdem hatte sie eine Ahnung von diesem Menschen, der nicht mehr mit sich zurechtkam. Zum Glück sind meine Töchter weit, weit weg, hatte sie damals im Stillen gedacht. … Trotzdem – er tat ihr leid.

Nicht etwa, dass er ihr viel Wesentliches erzählt hätte – nein, dazu war er doch ein viel zu verschlossener Mensch. Vielmehr oblag es ihrer Phantasie und ihrem Einfühlungsvermögen, für sich das Wenige, besser: die Gesprächsfetzen, zusammenzufügen – gleichsam wie einzelne Noten, die durch die Luft tanzten und verzweifelt versuchten, eine zusammenhängende Melodie zu bilden … in der halben Stunde, in der er bei ihr einen Kaffee trank. Sie versuchte, seine Worte mit ihren eigenen, ganz spezifischen Erfahrungen als Mensch, als Ehefrau, als Mutter in Einklang zu bringen. In seinem Fall musste man sie nicht belehren oder sie mit am Ende doch meist sinnlosen Informationen füttern. In ihren annähernd 70 Lebensjahren hatte sie gelernt, auch mit komplizierten Menschen zurechtzukommen. Sie hielt einen Moment inne … wartete, bis ihre Gedanken sich wieder geordnet hatten … im Gleichklang liefen. Ja, sie spürte eben, dass es so war – dass ER so war. 40 Jahre kannte sie ihn jetzt bestimmt. Ja, eigentlich hatte er alle ihre Kinder aufwachsen sehen. Dass sie sich letzthin dennoch fremd blieben, lag wohl daran, dass es ihn beruflich immer mal wieder wo anders hin zog … wie das Leben nun mal spielt. Aber er kam jedes Mal zurück … in diesen kleinen Ort … ja, und auch manchmal zu ihr … auf einen Kaffee – vor allem, wenn ihr Mann mal wieder in seinem Beruf als Ingenieur auswärts zu tun hatte.

Wie auch immer – zu einer anderen Zeit, da wäre er der ideale Schwiegersohn gewesen … auf jeden Fall. Warum ihr ausgerechnet jetzt all diese Gedanken durch den Kopf gingen – das wusste Gott allein. Ach so, ja … vermutlich deshalb, weil sie gerade eben plötzlich eine ungewöhnliche Art von Missklang im Verhalten von Kurt, ihrem Mann zu spüren meinte – etwas, das sie bisher noch nie erlebt hatte. Sonst fühlte er es immer sofort, wenn sie ihn ansah und erwiderte ihren, in solchen Momenten immer ganz speziellen Blick auch immer unmittelbar. Aber heute … da schien alles anders. Ganz anders. Was trieb ihn nur um? War sie schuld?

Weil jetzt draußen doch ein etwas frischer Abendwind wehte, waren sie ins Haus gegangen. Basti bestand jedoch darauf, weiterhin bei seiner Omi zu sein. So setzten sich die beiden auf die gemütliche Holztreppe, die ins Obergeschoss führte.

„Willst du unseren süßen Basti auch mal haben, Kurt? Ich werde für solch ein Geschaukel allmählich zu alt, fürchte ich.“ „Oder du fängst irgendwann mal an, abzunehmen – was du ja nun schon seit Jahren vorhast. Denk dir nur, Kathi, seit ein paar Wochen bin ich sogar nachts von der Seite deiner Mutter verbannt … sie sagt, sie schaffe es nicht mehr so oft in den ersten Stock, in unser Schlafzimmer. Seitdem schläft sie unten, auf der Couch. Das gibt’s doch nicht, oder?“, entgegnete Ihr Mann. Obwohl Else ihm einen bitterbösen Blick zuwarf, legte Kurt ungerührt noch eine Schippe drauf: „Pass nur auf, dass du unseren Basti mal nicht eines Tages zwischen deinem gewaltigen Busen zerquetschst.“

„Jetzt hört aber auf zu streiten“, fuhr Katharina dazwischen. „Was soll euer Enkel denn von euch denken! Außerdem, Mutti … du wirst niemals alt! Überhaupt, liebe Eltern: Er heißt immer noch Sebastian – gewöhnt euch dran. Bitte. Er soll mit einem vernünftigen Namen aufwachsen. Außerdem ist es sowohl für das Selbstbewusstsein als auch die persönliche Entwicklung wichtig, mit dem eigenen, richtigen Vornamen angesprochen zu werden. Wenn jemand in unserer Familie so etwas weiß, dann bin das ja wohl ich – schließlich habe ich Pädagogik studiert.“

So, basta. Das Thema Familie hatte Katharina wieder in die Realität zurückgeholt. Sie schüttelte sich innerlich wie ein nasser Pudel, schob die schweren, störenden Gedanken beiseite, stand auf und setzte sich auf eine Stufe unterhalb ihrer Mutter. Vertrauensvoll lehnte sie ihren Kopf an das Knie ihrer Mutter, die sofort die schmalen Hände ihrer Tochter ergriff und sie fest und liebevoll an sich drückte.

 „Lassen … lassen!“, brüllte da sofort ihr Enkel, ganz offensichtlich darauf bedacht, nicht zu kurz zu kommen.

„Na, Basti, willst du zu Opa?“ lockte Opa Kurt den Knirps und hielt dabei ein kleines Stück von dessen Lieblingsschokolade in der hohlen Hand so versteckt, dass nur dieser es sehen konnte … glaubt er zumindest. „Aber Papa …!“, wurde er sofort von seiner Tochter dafür gescholten – „Ich sehe alles!“.

„Also dafür, dass ich 700 Kilometer fahren müsste, um meinen Enkel an seinem Geburtstag zu sehen, müsst ihr ihn mir wenigstens jetzt für eine Weile gönnen … nicht wahr, mein kleiner Basti – pardon, Sebastian.“ Kurt hielt den Kleinen hoch über seinem Kopf und schüttelte ihn ganz zärtlich, bevor er ihn wieder abließ, wobei er ihm noch rasch einen Kuss auf die Stirn drückte.

Katharina durchzuckte plötzlich der Gedanke, am liebsten diese 700 Kilometer weiter nördlich sein zu wollen; fast bereute sie, hergekommen zu sein. Kaum aber begann der Gedanke in ihr Gestalt anzunehmen, schob sie ihn auch sofort wieder beiseite. So etwas durfte nicht sein … durfte sie nicht zulassen – hier war doch ihr Zuhause. Innerlich irgendwie aus der Bahn geworfen, senkte sie den Blick … schloss die Augen. „Was hast du, meine Kleine?“, fragte ihre Mutter besorgt. „Fühle mich nur etwas zerschlagen von der Fahrt“, murmelte Katharina. „Ach, dann geh doch einfach nach oben und ruh dich etwas aus. Wir werden uns um den kleinen Quälgeist hier schon kümmern. Versprochen!“, meinte ihr Vater lächelnd.

Müde zog sich Katharina am Treppengeländer hinauf in den ersten Stock; sie fühlte sich tatsächlich etwas abgekämpft. In ihrem früheren Mädchenzimmer angekommen, warf sie sich gleich auf ihr Bett.

*

In solchen Momenten meinte sie, die Zeit sei stehengeblieben … wartete, dass ER zur Tür hereinkam. Zwar waren sie damals meistens in seinem Haus gegenüber gewesen – dort wohnte seinerzeit auch noch seine Mutter -, aber wenn ihre Eltern und auch die älteren Geschwister mal nicht zuhause waren, dann kam er zu ihr nach Hause und es war für sie wie Weihnachten und Ostern zugleich. Wenn sie ihn umfing, ihn spürte, ihn mit all ihren Sinnen für sich haben durfte … sie glaubte manchmal gar, in eine Ohnmacht fallen zu müssen – dann, und nur dann war sie glücklich. Katharina schloss ganz fest die Augen, stellte sich sein Gesicht vor … . „Timo, mein geliebter Timo …“ flüsterte sie ein ums andre Mal.

… Aber – wie war das dann mit Ewald entstanden, den sie vor zwei Jahren Hals über Kopf geheiratet hatte. Aber … aber … es hatte doch niemand wissen dürfen, von wem sie das Kind … ihren geliebten Basti … in Wirklichkeit hatte. Zum Glück waren sowohl Ewald als auch Timo blauäugig und hatten blonde Haare. Auf der Hochschule in Hamburg hatte sie Ewald kennengelernt. Sie waren beide im selben Semester gewesen. Er war ihr aufgefallen, weil er im Seminar ein paar ziemlich kluge Fragen gestellt hatte. Er hatte ihr imponiert … ohne Zweifel. Und auf eine gewisse Weise hatte sie ihn auch sympathisch gefunden … sehr sogar – lediglich seine ewige Besserwisserei ging ihr manchmal auf die Nerven.

Ja, und als sie dann Basti in sich spürte, wusste sie sofort, was zu tun war. Ihre Verbindung zu dem fast 20 Jahre älteren Timo musste geheim bleiben. Ihr selber wäre sein Alter egal gewesen – er dagegen war da etwas heikel … konservativ eben. Und so hatte sie ihm denn auch verschwiegen, dass da etwas in ihr heranreifte … dass er bald einen Sohn haben würde. Nein, auf alle Fälle musste sie dieses Geheimnis für sich behalten … für immer und ewig.

Selbst jetzt, wo sie ihm in Gedanken doch wieder so nah war und er außerdem nur ein paar Schritt weiter SEIN Leben führte, welches so leicht ein gemeinsames hätte werden können, wenn sie nur gewollt hätte … da fragte sie sich, weshalb sie so gehandelt hatte – also sich nicht Timo gegenüber geöffnet hatte … ihm nicht offenbart hatte, dass da etwas unterwegs war – etwas, was ihnen niemand auf dieser Welt jemals würde nehmen können … was sie auf immer verbinden würde? Warum nur? Warum? Vielleicht … weil sie nicht wollte, dass er sein Leben unterbrechen musste, gar fürchtete, dass ein Kind für ihn eine zu große Belastung bedeutet hätte … weil er sich nicht gefesselt fühlen sollte – vielleicht auch, weil sie ihn dazu nicht für fähig hielt?

Andererseits … sie liebte ihn doch. Ja – und deshalb hatte sie so gehandelt, wie sie es damals, vor zwei Jahren, für richtig hielt.

Und heute? … Sie liebte ihn immer noch.

Beim Gedanken daran … bei den Gedanken an das alles verspürte sie wieder diese Unruhe in sich; fühlte sich in die Enge getrieben. Der Albtraum, versagt zu haben, hielt sie fest im Griff … sah ihr Leben als Scherbenhaufen zu ihren Füßen liegen. Katharina ließ sich auf die Seite fallen, kauerte sich zusammen … wie ein Embryo. Hatte dasselbe Gefühl wie damals, als sie Basti aus ihrem Leib holten, ihn aus der schützenden Hülle, diesem Kokon in eine Welt zogen, diesen kleinen, armen, strampelnden Wicht, der noch gar nichts von dieser Welt, dieser grausamen, wusste. Geradezu schuldig hatte sie sich damals gefühlt … ihn Menschen in die Hände zu geben, von denen nur ein Teil – nämlich sie – mit ihm durch das unzertrennliche, unauflösliche Band der Gene verbunden war. Schuldig auch deshalb, weil sie bereit war, ihn seinem leiblichen Vater vorzuenthalten … vorerst.

Katharina lachte bitter auf; musste für einen Moment daran denken, wie sie noch vor ein paar Minuten ihre pädagogischen Kenntnisse in die Welt hinausposaunt hatte.

Ja, sie hatte gelogen, geschwiegen, hatte es zugelassen, dass ihr Sohn gleich nach der Entbindung in Ewalds Arme gelegt wurde, der fast außer sich vor Freude war. „Mein Sohn!“, hatte er diese neue, kleine Stück Leben zärtlich willkommen geheißen. „Mein Gott, was hast du getan … was habe ich getan?“, hatte sie die ganze Zeit über gedacht und die Augen zugedrückt, ganz fest, damit ja niemand ihre Tränen sah. Zum Glück hatte die Hebamme Ewald dann hinausgeschickt … „Ihre Frau ist noch sehr erschöpft, sie braucht ein bisschen Ruhe.“ Ja, sie war erschöpft, schon damals – zu Tode erschöpft. Doch nur, weil sie tatsächlich das Beste für ihr Kind wollte, hatte sie den Mann an ihrer Seite, diesen, im Endeffekt Fremden, den mit ihrem Sohn außer momentaner Zuneigung doch wirklich absolut nichts verband, als seinen Vater akzeptiert.

Dass Timo wie so viele Male zuvor irgendwo in der Welt umherstromerte – als freischaffender Künstler, wie er immer betonte -, machte es nicht leichter. Und jedes Mal, wenn sie über ihre Eltern mitbekam, dass er mal wieder eine Zeitlang das Nachbarhaus bewohnte, schnürte es ihr die Kehle zu, blockierte all ihr Denken. Dann saß sie, weit weg von ihm, in der kalten Großstadt auf dem Drehhocker in der Küche, ihrem Lieblingsplatz, von dem aus sie auf die Alster schauen konnte und begann, monoton hin und her zu wippen … immer und immer wieder. Oft legte sie dazu noch die CD ein, die Timo mal für sie aufgenommen hatte. Lauter klassische Stücke: Grieg, dann die Nussknacker-Suite von Tschaikowsky. Außerdem der Donauwalzer von Strauß. Zu dessen Klängen hatte sie oft mit Timo zusammen in seinem Zimmer in seinem Haus getanzt … eng umschlungen. Oh, wie schön war das doch gewesen!

Stundenlang konnte sie auf dem Hocker sitzen … und wippen … und wippen … wie in Trance – in einer Wohnung, einem Haus, das für sie doch nicht wirklich den Anspruch an ein Zuhause erfüllte. Manchmal vergaß sie dabei die Zeit, hörte erst dann auf, wenn ihr Mann vom Büro nach Hause kam und sich wunderte, dass der Kleine, sein Goldschatz, wie er ihn immer nannte, die ganze Zeit über schrie und weinte. Mein Gott, machte sie sich dann selber Vorwürfe, was bin ich doch für eine Rabenmutter. Gleichzeitig wirbelten ihre Gedanken durcheinander, dachte, wie sehr sich Timo über dieses, sein Kind freuen würde; stellte sich vor, dass nicht Ewald, sondern dass ER gerade zur Tür hereingekommen wäre.

„Ich kenne da einen guten Psychologen“, hatte Ewald gesagt, als er bemerkte, dass die Depressionen bei seiner Frau sich immer stärker und länger hinzogen. „Ach, lass mich nur mal wieder eine Zeitlang zu meinen Eltern fahren – die Luftveränderung hilft mir sicher mehr als jeder Seelenklempner.“ Und so verbrachte sie wann immer es ging, seit Basti auf der Welt war, mehrere Wochen dort … in SEINER Nähe – wenn sie Glück hatte. So, wie jetzt. Und auch hierher, zu ihren Eltern, nahm sie die CD – „ihre“ CD – immer mit. Es musste einfach sein – war sie doch das Bindeglied zu dem Mann, den sie wirklich liebte.

*

Sie musste wohl eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, leuchtete der Mond bereits in ihr Fenster. Sie fröstelte – im Zimmer war es frisch geworden, sie streifte sich ihre Wollsocken über, schloss das Fenster, öffnete die Tür und wollte gerade nach ihren Eltern rufen, als sie ihren Namen hörte. „Wir müssen etwas unternehmen, Else. So kann das mit Katharina nicht weitergehen. Ich möchte sie nicht auf ewig unglücklich sehen. Immer wenn sie über unsere Schwelle tritt, leuchten ihre Augen erst dann auf, wenn der Name Timo in irgendeinem Zusammenhang fällt. Das hast du doch sicherlich auch schon bemerkt … oder, Else? Sei ehrlich. Und außerdem hört sie sich dann jedes Mal diese vermaledeite CD an. Und das jeden Tag.“

Ihre Mutter, die gerade im Begriff war, Katharinas Lieblingsgebäck auf den Tisch zu stellen, setzte sich neben Kurt auf die Chaiselongue. „Darf ich? Ich brauche das jetzt“, meinte sie zunächst nur, lehnte sich zurück, streckte ihre Beine aus. Er schlang seine Arme fest um sie … ganz fest. Dieses Gefühl der Geborgenheit, er wusste, sie brauchte es eben manchmal. Vor allem dann, wenn sie sich unsicher war, was das Richtige sei. So, wie er.

„Können wir da wirklich etwas tun? Wissen wir denn, was das Richtige für Katharina und für Basti ist?! Ich wünschte, ich wüsste es, Kurt. Seltsam, dass es immer wieder unser Nesthäkchen ist, um das wir uns am meisten Sorgen machen … unsere kleine Kathi.“

Katharina, die immer noch wie angewurzelt oben an der Treppe stand, fühlte sich umso schlechter, je länger sie zuhörte. Sie wusste, sie hatte kein Recht, zu lauschen. Auf Zehenspitzen huschte sie in ihr Zimmer zurück, schloss ganz leise die Tür, setzte sich wieder auf ihr Bett … . Sie musste nachdenken. Ja – wenn sie es recht bedachte, dann hatten die beiden nicht unrecht. Vor allem ihr Vater mit seinem analytischen Denken ließ sich kein X für ein U vormachen.

Wenn sie es so richtig überlegte, dann hatte sie in ihrem bisherigen Leben immer nur ein Spiel gespielt. Hatte wie auf einem Schachbrett die Mitspieler hin- und hergeschoben … Timo, Ewald, ihre Eltern – ja, und der letzte Leidtragende würde dann irgendwann einmal Basti sein. Das aber durfte niemals sein. Je früher sie diesem Spiel also ein Ende setzte, desto besser für alle.

Sie, Kathi … Katharina … wusste, was jetzt getan werden musste. Sie würde dorthin gehen, wo sie sich früher oft mit Timo getroffen hatte. Zu dem Übergang für Wildtiere an der A 81, den die meisten nur vom Auto her kannten; sicher meistens erst auf den zweiten Blick den Zweck dieses Bauwerks realisierten, sich zunächst wunderten, dass so viele Büsche über die Ränder ragten … richtig große Bäume waren dort auch zu finden. Etliche schmale Pfade durchzogen das buschige Gelände. Vielleicht hatten sich die Tiere den veränderten Bedingungen tatsächlich schon so weit angepasst, dass sie mittlerweile Verkehrsschilder lesen konnten, dachte Katharina manchmal im Spaß, wenn Timo und sie herkamen und sich ins warme Gras legten und ihre gemeinsame Liebe genossen. Wie auf einem anderen Planeten hatten sie sich gefühlt … . Über zwei Jahre war das nun schon her.

Manchmal hatten sie das Gefühl gehabt, der Boden würde schwanken – von dem gewaltigen Verkehr unter ihnen, dort, wo über der sechsspurigen Fahrbahn die vielen Autos und Laster die Luft zerhämmerten. Ja, die ganze Brücke sei tatsächlich so konstruiert, dass Schwingungen in einem bestimmten Bereich zulässig seien, hatte Timo ihr mal erklärt. „Wenn wir lange genug hier stehen, sind die vielleicht sogar so stark, dass es zum Fliegen reicht“, hatte Kathi mal gemeint – woraufhin Timo sie auslachte. So etwas war für ihn frühpubertärer Kinderkram.

Katharina wusste jetzt, was zu tun war. Sie wählte die Nummer der Taxizentrale. Morgen Früh, wenn ihre Eltern noch schliefen, würde sie den Fahrer in die Nähe der Brücke – ihrer Brücke – dirigieren. Denn sicher hatte er nicht so viele Fahrten hierher … . Das restliche Stück Weg würde sie genießen, würde in Gedanken bei IHM sein, der nicht mehr bei ihr sein konnte … es nicht durfte.

Sie würden sich im Geiste bei den Händen fassen … gemeinsam auf das Brückengeländer steigen … . Oh doch – sie würde den Flug genießen.

*

Sie hatte ihren Wecker auf fünf Uhr gestellt, wachte aber sogar noch ein paar Minuten früher auf. Die innere Anspannung, die Erwartungen an den neuen Tag hielten sie fest im Griff. Sie sah sich noch ein letztes Mal in ihrem Zimmer um. Nein, viel brauchte sie nicht mitzunehmen … vielleicht eine Decke, in die sie sich beide noch kuscheln konnten – bevor es soweit war. Als sie im Erdgeschoss an ihrer Mutter vorbeischlich, sah sie ihren kleinen Sohn neben ihrer Mutter auf der breiten Couch liegen. Gott, wie winzig er wirkte – neben dem riesenhaften Körper seiner Großmutter. Katharina war beruhigt. Ja, er war bei den beiden in guten Händen.

Als sie ins Taxi stieg, warf sie noch einen raschen Blick nach oben auf das gegenüberliegende Haus. Dort war alles dunkel. Höchste Zeit für ihn, dachte sie noch. Sie durften sich auf keinen Fall verpassen. Das Taxi brauchte gerade mal 20 Minuten. „Soll ich auf sie warten?“, rief ihr der Fahrer hinterher. Doch hörte sie seine Worte schon nicht mehr. Die Decke unter dem Arm, war sie sofort losgerannt. Zwar dämmerte es schon leicht, doch hätte sie IHREN Platz selbst bei kohlrabenschwarzer Nacht wiedergefunden. Keuchend warf sie sich in das vom Tau noch feuchte Gras. Katharina schloss die Augen. „Komm, Liebster, komm!“. Plötzlich spürte sie ein leichtes Beben unter sich. „Ja“, flüsterte sie. Dann jedoch ein Schnauben. Nicht einmal einen Meter entfernt, nur durch dichtes, hohes Gebüsch getrennt, bahnte sich ein Pferd mit seiner Reiterin seinen Weg. „Verdammt, dieses dornige Gestrüpp. Warum habe ich mir das auch angetan!“; hörte sie sie schimpfen.

Beim Gedanken an das Pferd fiel Katharina die Goethe-Ballade vom Erlkönig ein, worin am Ende des Höllenritts das, von Fieberphantasien geschüttelte Kind stirbt. Sofort musste Katharina da an ihren kleinen Sohn denken. Urplötzlich fühlte sie eine Heidenangst in sich aufsteigen … die Brust presste sich ihr zusammen, ihr war, als würde eine riesige Faust nach ihr greifen. „Basti … mein Basti“, flüsterte sie. Sie sprang auf, ließ die Decke in ihrer Panik Decke sein, fiel noch einige Male hin, rannte und rannte. Früher, mit Timo, da waren sie diesen Weg genauso gerannt … hin voller Vorfreude, zurück vor lauter Angst, man hätte sie vielleicht vermisst und wäre ihrem kleinen Geheimnis auf die Spur gekommen.

Bevor Katharina schwer atmend die Gartentür zu ihrem Elternhaus öffnete, schaute sie doch noch kurz nach oben … zu SEINEM Fenster. Ja, sie meinte, einen Schatten gesehen zu haben – genau in diesem Augenblick. Der Traum … ihr gemeinsamer Traum – vorbei? Sie stolperte mehr als dass sie ging ins Haus. Dort schien alles unverändert. Die Vorhänge waren noch zugezogen … ihre Mutter lag wie vorhin, schwer atmend, auf der Klappcouch; neben sich das obligatorische Glas Rotwein, wonach sie, wie Opa Kurt behauptete, oftmals in einen geradezu todesähnlichen Schlaf fiel.

Etwas hatte sich aber doch verändert: Wo war Basti … ihr kleiner Basti?

In diesem Moment sah sie ein Bein von ihm unter dem Körper ihrer Mutter herausragen. Gott sei Dank, er war da. Wohlbehütet … .

Dennoch – etwas stimmte nicht. Das Bettlaken um Basti herum wirkte so sonderbar verstrampelt … „Mutti … Mutti!“ rief Katharina voller Panik und rüttelte an ihr, um sie aufzuwecken. In den schweren Körper kam aber nur allmählich Bewegung. „Basti … Sebastian!“. Ein entsetzter Aufschrei ließ das Zimmer erbeben. Nachdem sie ihren Sohn endlich herausgezerrt hatte, warf sich Katharina auf ihn … bedeckte ihn mit unzähligen Küssen, hielt die kleinen, eiskalten, steifen Händchen … versuchte, sie zu wärmen. Der ganze Körper … kalt.

Aus … alles aus – vorbei.