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Shortstory von Guido Sawatzki

Es war drei Uhr in der Früh. Die Lichter der Scheinwerfer auf diesem gottverlassenen Autobahnstück zwischen Nürnberg und Potsdam flirrten über die nasse Betondecke; mal mehr, mal weniger stark – je nach Tiefe der Schlaglöcher. Egal. Er riskierte es einfach. Mehr als 115 km/h sollte nach Werksangaben seine Kutsche, ein Citroën 2 CV aus der letzten Baureihe, in der Regel ohnehin nicht fahren. Außerdem liebte Gerd seine „Ente“ und reizte die Möglichkeiten seines fahrbaren Untersatzes schon allein deshalb nicht bis ins Unendliche aus. Es war ohnehin ein kleines Wunder gewesen, dass er sich bei seinen eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten – er arbeitete als Handelsvertreter für Küchenartikel – diesen Oldtimer überhaupt leisten konnte.

Obwohl er vor Müdigkeit kaum noch aufnahmefähig war, kam ihm eines doch reichlich merkwürdig vor: Vor ihm, im Niemandsland zwischen zwei größeren Städten, färbte sich die Straßendecke rot; ganz allmählich. Wie das warnende Rot einer Ampel, musste Gerd denken. Über die gesamte Straßenbreite. Während er noch darüber sinnierte, fing der Motor an zu blubbern, der Wagen fuhr langsamer … und blieb schließlich stehen. Gerd blieb gerade noch Zeit, ihn auf den Seitenstreifen zu lenken. Sein Blick fiel auf die Tankanzeige – das aber rein zufällig. Denn nie im Traum hätte er daran gedacht, einmal auf der Autobahn stehenzubleiben, bloß weil der Benzintank leer war. „Mehr nach unten geht nicht“, murmelte er, nachdem er mit den Fingernägeln gegen die Plastikabdeckung geschnippt hatte, in der Hoffnung, dass sich die Tankuhr geirrt haben könnte und der Zeiger sich in Wirklichkeit irgendwie verklemmt hatte und wieder nach oben springen würde. Doch nichts regte sich. Na ja, irgendwann trifft’s jeden, tröstete er sich.

Eigentlich müsste er jetzt die Warnblinkanlage einschalten – vor allem, wenn er jetzt tatsächlich die zehn Kilometer bis zur nächsten Autobahn-Tankstelle laufen würde, überlegte er noch. Andererseits käme er danach zwar mit einem vollen Benzinkanister zurück, aber dann wäre möglicherweise die Autobatterie leer. Frustriert stapfte er los, seinen Wagen überließ er dem Dunkel der Nacht.

Gerd hatte noch keine 20 Meter zurückgelegt, als er hinter sich einen gewaltigen Knall hörte … so, als würde etwas explodieren. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, als hole ihn etwas von den Beinen, doch schien er Glück zu haben. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch seine Ente durch die Luft fliegen.

„Oh Gott – mein Auto … alles, was ich habe! Alles … auf einmal weg!“ Mann, hätte er doch nur den Warnblinker in Gang gesetzt! Auf einen Schlag war alles um ihn herum ruhig. Beklemmend ruhig. Er lief zurück. An der Unfallstelle war kaum etwas zu sehen – lediglich sein zerfetzter Wagen, aus dem etwas Rauch aufstieg. Kein zweites Auto weit und breit. Gerd schüttelte sich … war wohl die Kälte.

Doch noch etwas fiel ihm auf: Exakt an der Stelle, an der sein Wagen aufgeschlagen war, fehlte die Rotfärbung. Stattdessen war auf dem Asphalt so etwas wie ein Pfeil aufgemalt, der in eine Richtung weg von der Straße wies. Gerd war verwirrt. Alles so rätselhaft … . Was sollte er tun? Na gut, dann würde er erstmal diesem seltsamen Pfeil folgen – vor allem auch, weil er den unwiderstehlichen Drang in sich spürte, genau dies zu tun. Ein paar hundert Meter weiter, am nahegelegenen Waldrand entlang, erneut ein Wegweiser – nur diesmal in Rot. Als er ihn berührte, blieb etwas Farbe an seinen Fingerkuppen hängen; ihm schien es, als ob die Farbe noch frisch war.

Nach drei weiteren Wegweisern fand er sich plötzlich auf einer Lichtung wieder. Fünf oder sechs Tipis mussten es sein, die dort im Rund auf einer Wiese standen; soweit er erkennen konnte. Zum Glück war Vollmond. Ihm war schon etwas mulmig zumute. Ihm kam der Gedanke, einfach wegzurennen, doch fühlte er sich wie gelähmt.  „Hallo …“, getraute er sich schließlich zu rufen. Mehr nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Deshalb kam das Ganze wohl auch etwas hastig und ziemlich kläglich heraus, wie er selber bemerkte. Seine Beine waren wie Gummi.

„Hab keine Angst – komm näher!“. Die Stimme schien aus einem der Indianerzelte zu kommen. „Du bist doch Gerd … oder?“ Er war perplex. Woher … ? Zugleich aber nahm ihm die mysteriöse Stimme tatsächlich etwas von der Angst, die ihn einen Moment lang gepackt hatte. Bevor er aber irgendetwas sagte, musste er erst noch den Kloß im Hals loswerden und Ordnung in seine Gedanken bringen.

„Wer sind Sie … und wo soll ich hinkommen?“, fragte er, immer noch leicht verunsichert, auf gut Glück – was er sagte, war ja im Grunde genommen egal, dachte Gerd bei sich. Doch Hauptsache, es kam irgendeine Konversation in Gang. Aber dass die seinen Namen kannten?! Fragen über Fragen wirbelten ihm durch den Kopf.

„Weißt du, Gerd, du bist hier in einer Art Vorstufe gelandet. Ob es jedoch die zur Hölle oder die zum Himmel ist, das werden die nächsten Minuten entscheiden. … Geh einfach zu dem Zelt, das dir am meisten zusagt. … Los, geh ruhig!“

„Verrückt …“, murmelte Gerd vor sich hin, was hatte das zu bedeuten? Trotzdem. Er wollte weder in den Himmel noch in die Hölle – schon gar nicht jetzt. Andererseits wollte er sein unsichtbares Gegenüber auch nicht beleidigen. Merkwürdig – aus irgendeinem Grund vertraute er der fremden Stimme. Zugegeben, er hätte sich viel lieber mit einer süßen Lady unterhalten – aber was soll’s? Das hier war schließlich kein Wunschkonzert. Auch war es ja nicht wie bei einem Navi, bei dem man sich die Stimme aussuchen konnte. Gerd schaute sich die sechs Zelte genau an. Dabei hatte er das unbestimmte Gefühl, dass dies bereits ein Bestandteil der Prüfung war. Prüfung? Er stutzte. Fing er etwa schon an zu phantasieren? Hmm … . Die Hand für sich ins Feuer legen, das würde er jetzt auf gar keinen Fall!

Das Zelt, für das er sich kurzerhand entschieden hatte, schien das Richtige zu sein – denn immerhin hing dort gleich hinter dem Eingang ein Gemälde. Er stutzte. Hatte er das nicht gestern erst gesehen … im Museum Barberini bei der Edvard Munch-Ausstellung? Er erinnerte sich sogar noch ganz genau an den Titel: Trauermarsch.

„Und? Gefällt Dir das Bild?“. Gerd zuckte etwas zusammen. Ihm war unheimlich zumute. Immer noch war keiner zu sehen, zu dem diese Stimme gehörte. Seltsam – jetzt, da er eingetreten war, schien die Stimme von außen zu kommen – oder besser gesagt: von oben. Sein Blick folgte dem Rauch des kleinen Feuers vor ihm bis ganz nach oben zu der Belüftungsöffnung. Gerd stand wie erstarrt. Beim Blick durch den Spalt der Rauchklappe glaubte er ein Wunder zu sehen. Myriaden von Sternen, so prächtig, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte, schienen sich versammelt zu haben. Ihm schien es fast, als zwinkerten sie ihm zu. Tiefer Friede überkam ihn. Es fiel ihm schwer, sich von diesem Anblick loszureißen, auch fühlte er sich auf einmal so leicht, so wunderbar leicht und frei.

„Na …?“

Ach ja, das Bild … . Nun, Gerd fand es, vor allem nach dem, was seine Augen gerade erleben durften, immerhin bemerkenswert. Aber schön? Beileibe nicht. Eher ein bisschen gruselig, mit den nackten Frauenleibern und so … . Auch Köpfe konnte er darauf erkennen, nur wusste er nicht, ob es sich um die Überreste guillotinierter Leiber handelte oder ob es Menschen waren, die in einem Sumpf feststeckten und sich zu befreien versuchten. Ganz oben war noch ein Sarg zu sehen, den diese Menschen auf einen abgehackten Baumstumpf – oder war es ein Berg (?) – gehoben hatten.

„Du kannst ja denken, Gerd“, ertönte etwas spöttisch wie aus dem Nichts wieder diese „unsichtbare“ Stimme. „Entschuldige, ich hatte dich gar nicht um Erlaubnis gefragt, dich zu duzen. Geht das in Ordnung?“. Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. „Bist doch ein kluges Bürschchen.“.

Stille breitete sich aus. Gerd versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Ihn beschlich das Gefühl, sein „Gegenüber“ konnte in sein Innerstes schauen … seine Gedanken lesen. Was um Himmels willen würde da noch alles auf ihn zukommen? „Und, was meinst du? Für wen wird dieser Sarg wohl bestimmt sein – na?“

„Ääh …“, konnte Gerd nur stammeln. „Das ist doch nur ein Bild …“.

„Ein Bild UND eine Metapher, Gerd. Eigentlich hast du jetzt alle Zeit der Welt, mein Lieber – aber für den Augenblick will ich nur eins von dir wissen: Sollen sie deinen Sarg schon herunterholen? Dann könntest du dableiben, völlig unbeschwert und ohne Sorgen … würdest nie mehr an Bürsten und Haushaltsreiniger denken müssen. Na – was sagst du?“

„Wieviel Bedenkzeit gibst du mir?“, fragte Gerd, mutiger werdend – denn offensichtlich ließ man ihm noch die Wahl. Also duzte er sein unbekanntes Gegenüber jetzt ebenfalls. Auf keinen Fall würde er sich zu etwas drängen lassen, was er gar nicht wollte. Außerdem war er immer noch unsicher … . Und ja! Denken konnte auch er – selbst wenn er bloß ein kleiner Klinkenputzer war.

Die Stimme überging seine Frage; offenbar interessierte sie etwas völlig anderes. „Du hast die Sterne gesehen, Gerd. Nicht wahr?“ Dieser nickte. „Diese unzähligen Sterne, von denen selbst wir nicht wissen, wie viele es sind. … Und das will etwas heißen!“. Die Stimme lachte; lachte so laut und so lange, dass Gerd ein kalter Schauer über den Rücken lief. Es war grotesk – seinem unsichtbaren Gegenüber schien das Lachen irgendwie riesigen Spaß zu machen; vermutlich hatte er schon lange keine Gelegenheit mehr dazu gehabt. Der Schall brach sich an den Zeltwänden derart gewaltig, dass Gerd das Gefühl hatte, in einem riesigen Dom zu stehen.

Es wurde immer bizarrer: Er streckte die Finger aus, um die Wand des Tipis zu berühren – aber da war nichts! Seine Hand griff ins Leere … kein Stoff war da. Nichts! Vielmehr konnte er hindurchgreifen … . Gerd war geschockt, hatte das Gefühl, dass ihm die Realität aus den Händen geglitten war.

„Hier ist alles, was du siehst, nichts. Doch ist dieses Nichts viel mehr als das, was du in deiner Welt besitzt, Gerd. Wenn du alles, was dir in deinem Leben lieb ist, verlierst, bleibt dir tatsächlich … NICHTS. … Hm – natürlich außer dein Leben. Doch was ist dir dieses Leben dann noch wert, Gerd?“. Dieser empfand die Botschaft zwar verstörend, aber zugleich als etwas Tröstendes … weil Endgültiges.

Ein tiefer Seufzer erfüllte den Raum. „Na gut, Gerd.“ Die Stimme klang leicht frustriert. „Ich werde noch abwarten und den Sarg – deinen Sarg – noch nicht herunterholen lassen … vom Trauerberg, wie wir ihn hier nennen. Ich will dir noch die Gelegenheit geben, etwas in deiner Welt zu ändern.“ Die Stimme unterbrach sich … musste sich räuspern. „Die Art, wie du soeben zu den Sternen – meinen Sternen – hinaufgesehen hast … du hättest dein Gesicht sehen sollen, wie total verzückt du dagestanden bist. Du gehörst, so scheint es mir – und ich täusche mich äußerst selten, musst du wissen – zu den wenigen Menschen, die Schönheit noch erkennen; die noch in der Lage sind, ihr Herz daran zu erwärmen und mit Liebe zu erfüllen … und die außerdem diese Schönheit und Wärme selbstlos weitergeben können. Es gibt nicht mehr viele Menschen von deiner Art.“

Gerd blieb stumm … fand keine Worte.

„Ich gebe dich frei, Gerd. Geh hinaus und erfreue dich weiterhin an allem Schönen, was dein Auge sieht. Allein dies soll deine Aufgabe sein. Und vergiss nicht – wir sind bei dir!“. Gerd glaubte einen Moment lang so etwas wie einen Händedruck zu verspüren. „Komm wieder, wenn du glaubst, dass deine Augen in deiner Welt nichts Schönes mehr finden können. … Und jetzt geh!“.

Etwas strich über sein Gesicht. Erschreckt schloss Gerd die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand er exakt an der Stelle, wo das mit den Pfeilen begonnen hatte. Doch da war nichts mehr. Außer – er traute seinen Augen kaum … tatsächlich! Dort, am Straßenrand, da stand sie. Ja, seine Ente. Unversehrt! Als er überglücklich zum Himmel hinaufschaute, hatte er das unbestimmte Gefühl, dass die Sterne ihn auslachten. Gerd hielt einen Moment inne, wartete still auf einen Kommentar von dieser Stimme, die ihm jetzt sicherlich die Lächerlichkeit seiner Gedanken vorhalten würde.

Aber da war nichts. Alles blieb ruhig. Bis auf den Streifenwagen, der jetzt hinter seinem Wagen hielt. „Sie wissen schon, dass Sie hier nicht ohne berechtigten Grund halten dürfen …?“

Die Stimme kam Gerd bekannt vor.