„14-Jährige wird von zwei anderen Mädchen auf Bahnsteig angegriffen“. Weshalb nehmen wir gerade diese Schlagzeile so sehr wahr? Weil wir Mitgefühl für das angegriffene Mädchen verspüren? Kaum. Denn sonst müssten wir ja auch mit dem Menschen – egal, ob jung oder alt – Mitgefühl haben, der auf dem Gehweg stolpert und sich dabei wehtut. Doch was ist meist unsere Reaktion dabei? Wir lachen die Person aus, sagen, „ist doch selber schuld“. Wir differenzieren also unser Mitgefühl.
Im Falle des angegriffenen Mädchens kommen jedoch noch mehr Faktoren hinzu: Sensationslust beispielsweise. Die Devianz vom Alltäglichen ist hier noch um ein Vielfaches größer. Hier treten überdies die niedrigsten Instinkte zutage. Solche, die wir uns aneignen, wenn wir uns an so genannten Shows im Fernsehen ergötzen, bei denen Menschen angepöbelt, bespuckt, erniedrigt werden und es unendlich viele Menschen gibt, die solche Szenen auch noch beklatschen – vor allem dann, wenn die Opfer Frauen sind – und die Sexualität noch ins Spiel kommt.
Laut Polizeibericht haben weder die umstehenden Zeugen noch Bahnfahrgäste versucht, dem Mädchen in seiner Not beizustehen – stattdessen erfolgte der Griff zum Handy und die Schlägerszenen wurden gefilmt.
Und? Wie würden wir, die wir uns diesen Vorfall jetzt vor Augen halten, uns mit der geschilderten Situation auseinandersetzen, handeln?
„Das geht uns nichts an, misch dich nicht ein, geh weg da, du machst dich vielleicht nur schmutzig – und wer bezahlt dann die Reinigung?“ – ganz zu schweigen davon, dass man selber körperlichen Schaden erleiden könnte. Jemand, den ich kenne, der würde so handeln und auch seine Freundin am Eingreifen hindern – weil er genau so denkt. Weil er sich – als Einer, der sonst ohnehin nichts zu sagen hat – sich in die Meute derjenigen einreiht, die da mitkrakeelen – wenn die Akteure im Fernsehen im Dreck getreten werden. Weil er so seine Ohnmacht abreagieren kann.
Diejenigen, die sich da im Fernsehen in diesen besagten Shows beschmutzen lassen – an Seele und Leib – … warum tun sie das? Nun, sie wurden sorgfältig ausgesucht, ob sie als Futter für’s Fernsehquotenpublikum taugen, ihrer Rolle als Opfer oder Täter vor laufender Kamera gerecht werden, damit Millionen und Abermillionen auf die Produkte in den Werbefilmchen zwischendurch aufmerksam werden – und diese kaufen.
Denn darauf allein kommt es an. Um sie allein geht es. Ums Produkt. Ums Geld.
Und was wird das überfallene Mädchen tun? Ist es wirklich nur Opfer? Wenn ja, wie wird ihm geholfen? Ist da jemand, der dafür sorgt, dass ihr vielfach gefilmtes Leiden aus dem Internet verschwindet? Für immer? Ist da jemand, der ihr beisteht, wenn in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren weiterhin auf ihrer Seele herumgetrampelt wird – vielleicht gar noch unter dem Vorwand, die Öffentlichkeit habe ein Recht darauf, zu erfahren, was war?
Kannte es die beiden anderen Mädchen? Sind die beiden nur ausgerastet? Dann wird unser so genannter Rechtsstaat sorgfältig abwägen und unter anderem fragen, ob das überfallene Mädchen die andern möglicherweise provoziert hat – oder ob das Ganze gar nur ein „Fake“ war und Opfer und Täter unter einer Decke stecken und die drei den „Vorfall“ vielleicht nur vorgetäuscht haben, um die Story hinterher erfolgreich – also gegen Geld – zu vermarkten? Denn schließlich konnte die Kleine ja rasch wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden … war also alles nur halb so schlimm?
Und wenn sie tatsächlich grundlos zusammengeschlagen wurde und die Täterinnen nicht kannte, so wird auch hierbei sorgfältig gegeneinander abgewogen und überlegt, dass man ja wegen so einer Sache den beiden Mädchen schließlich nicht die Zukunft verbauen dürfe … weil ein solcher Eintrag in ein Straf- oder anderes Register sich später entsprechend fatal für sie auswirken könne et cetera.
Rechtsstaat eben … und Gesellschaft.
Halten wir uns den Spiegel vor!