DIE ABGELEGTE FRAU

Shortstory von Guido Sawatzki

Der Wecker surrte. Zuerst nur ganz leise, dann jedoch steigerte sich das Ganze zu einem fürchterlich durchdringenden Ton … den sie im Übrigen scheußlich fand.

Ihr Mann hatte ihn ihr dagelassen. Vermutlich deshalb, weil er wusste, wie sehr ihr dieser Weckton auf die Nerven ging. Meistens gelang es ihr, die AUS-Taste zu drücken, bevor sich das anfängliche Summen, ähnlich dem Ton einer fetten Fleischfliege, zu einem drohenden Brummen wie dem einer dicken Hornisse steigerte. Wenn sie endlich den Wecker zum Schweigen gebracht hatte, fühlte sich das jedes Mal wie ein Sieg über einen verhassten Feind an.

Wer weiß, dachte sie, vielleicht habe ich dieses Gefühl mit der Zeit auch auf ihn, Heinrich, übertragen – vielleicht ist er mir auch auf die Nerven gegangen. Überhaupt – jetzt ist der Wecker ja überflüssig. Ich werde ihn in den Müll werfen … gleich nachher.

Schließlich ist er ausgezogen. Endgültig. Sie schaute hinüber … zum Kleiderschrank, an dem die eine Seitentür offenstand. Er hat sie wohl zu schließen vergessen, angesichts der Eile, die ihn trieb. Wollte wohl so schnell wie möglich das gemeinsame Kapitel hinter sich bringen. Ach nein, fiel ihr ein, das mit der Tür stimmt ja gar nicht … oder nur zum Teil. Dadurch, dass der Boden an dieser Stelle etwas uneben war, ging exakt diese Schranktür immer dann auf, sobald man dran vorbeilief. Komisch, dass sie dieser Schrank jetzt noch so sehr beschäftigte. Nun, immerhin gehörte er zu ihrem Zusammenleben dazu … hatte beide mit seinen Eigenarten immer wieder beschäftigt – war dadurch gewissermaßen zu einem Bindeglied zwischen ihnen geworden … . Kurios.

Hm … getrieben, also hinausgetrieben, hatte sie ihn eigentlich nicht … das war dann schon eher die Andere, die Neue – die sie nicht kannte … die sie auch gar nicht kennenlernen wollte.

Hinter der halboffenen Tür des Kleiderschranks versteckte sich jetzt die Leere. Hämisch grinsend starrten sie die ausgeräumten Fächer an. Mit einem riesigen Satz sprang sie aus dem Bett … schlug die Schranktür zu, schloss zweimal um. Nein, das war ja nicht zum Aushalten! Als ob sich selbst jetzt noch sein Geist hier breitmachen wollte.

Ganz tief vergrub sich Silvia jetzt wieder in ihr kuscheliges Bett … voller Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit. Jedoch – die Wärme erreichte sie nicht … nicht wirklich. Es fühlte sich eher so an, als ob sie in einem Gebirgsbach direkt nach der Schneeschmelze liegen würde. … Fühlte sich abgehängt; alles in ihr war taub und starr. Auch war ihr derart kalt, dass ihre Zähne klapperten. Der abgebrochene Stalagmit kam ihr in den Sinn, den sie einmal zusammen mit ihrem Mann in einer Tropfsteinhöhle gesehen hatte. Ein Gefühl tiefer Trauer hatte sie bei diesem Anblick empfunden. … Heinrich hatte sie deswegen ausgelacht. Sie musste daran denken, dass der nun am Boden liegende, in mehrere Teile geborstene Tropfstein sich umsonst Jahrtausende lang angestrengt hatte … umsonst seine wunderschöne Gestalt angenommen hatte – um dann schließlich von einfältiger Menschenhand zerstört zu werden. … Sein Schicksal – von einem Moment auf den anderen besiegelt … endgültig.

„Nein … nein …!“. Erschrocken hielt sich Silvia die Hand vor den Mund. Was sollten denn die Nachbarn denken … zumal die Doppelhaushälften furchtbar hellhörig waren. Atemlos ließ sie sich in ihr Kissen zurückfallen. Silvia zog die Schultern zusammen … spürte nur noch eisige Kälte.

Wie steril doch die Wände wirkten, nachdem er bereits in der Nacht davor – ihrer letzten Nacht im gemeinsamen Ehebett – seine selbstgemalten Bilder abgehängt hatte. Silvia hielt es nicht länger im Bett aus. Als sie an der kurz zuvor geschlossenen Schranktür vorbeitaumelte, starrte sie der Spiegel vorwurfsvoll an. Komisch – früher hatte sie gar nicht darauf geachtet, dass da ein Spiegel war … hatte es auch nicht nötig gehabt, ständig ihr Spiegelbild zu begaffen. Doch jetzt? Selbstsicherheit ade!

Früher … ja, früher hatte auch er sie schön gefunden – sie sich selbst auch. Silvia fuhr langsam die Falten in ihrem Gesicht mit dem Finger nach … selbst ihre Finger waren dick geworden. Der Ring drückte tief ins Fleisch. ER trug seinen schon lange nicht mehr. Das war seit jenem letzten Streit … als er endgültig Farbe bekannte. Da hatte Silvia aber schon lange geahnt, ja, beinahe körperlich gespürt, dass da etwas nicht mehr stimmte … etwas aus dem Lot geraten war.

Geschlafen – also so richtig durchgeschlafen – hatte sie schon lange nicht mehr. Mein Gott, wie lieb, wie zärtlich hatte er zu ihr sein können … früher. Manchmal spürte sie noch seine Hand … wie er ihr sanft über die Haare strich … seine Finger sich zärtlich ihre Wirbelsäule hinuntertasteten – doch waren dies lediglich noch Erinnerungen daran, die sie wie einen Schatz hütete. Immer in der Hoffnung, dass die Gefühle wiederkämen. Oh, wie sehr vermisste sie ihn. Silvia stöhnte leise auf. „Ich bin doch auch nur ein Mensch …“ – wie sehr sie ihn und seine Zärtlichkeiten doch brauchte.

Erschöpft wankte sie zum Bett zurück, wickelte sich so fest in ihrer Decke ein, dass sie kaum noch atmen konnte. Kinder hatten sie keine – zum Glück! … Weshalb eigentlich „zum Glück“? Immerhin wäre es jetzt ein riesiger Trost für sie, sich vertrauensvoll an ein Kind – ihr Kind – kuscheln zu können … sich an ihm festklammern. … Etwas, wofür es sich zu leben lohnte.

Nein, er hatte ihr nichts mehr gegeben – und nichts gelassen. Unverbindlich, neutral, war ihre Beziehung zuletzt gewesen. Das hatte er ihr auch zu verstehen gegeben … immer deutlicher. Wie lange mochte ER wohl diesen Zustand schon empfunden haben?

Silvia schloss die Augen … suchte zu verdrängen – den Schmerz, das Verlassenwerden … Heinrich. Als sie wieder auf den Wecker schaute, war eine ganze Stunde vergangen. Ja, es schien wohl zu stimmen: Zeit heilt Wunden. Immerhin hatte bereits diese eine Stunde ausgereicht, dass ihre beklemmenden Gefühle sich auflösten.

Ja … tatsächlich! Die Wehmut in ihr hatte nachgelassen. Und ja – sie würde ihn vergessen. … Vielleicht würde die Trauer sogar bald von einem Gefühl des Hasses abgelöst werden. Kaum hatte sie jedoch diesen Gedanken in sich zugelassen, schnürte es ihr die Kehle zu. … Das Atmen fiel ihr schwer, sie stöhnte ein paarmal leise auf … drückte ihr Gesicht ganz fest in die Kissen. Das Stöhnen wurde lauter, quälender … nur nicht mehr daran denken … nicht denken – was wird.

Tschüss“. Kalt war sein Abschied gewesen, nachdem er noch in der Nacht seine letzten persönlichen Sachen zusammengerafft hatte. Danach hatte sie sich eine Flasche Williams Christ auf ihr Nachttischchen gestellt. Für alle Fälle … . Getrunken hatte sie davon nichts – keinen einzigen Tropfen. Jetzt war sie jedoch geradezu süchtig danach … süchtig nach Vergessen! Sie entkorkte die Flasche … registrierte nebenbei, dass diese Marke sich tatsächlich noch einen echten Korken leistete. Respekt – dachte sie. Sie griff nach dem bereitgestellten Whiskyglas und schenkte ein … randvoll.

Ich habe versagt … ja, versagt …“, sagte sie immer und immer wieder. Aus dem Flüstern wurde ein Murmeln, dann ein Grummeln, schließlich ein hässliches Krächzen. Nanu – sie vertrug das Zeug ja! Silvia schüttelte sich voller Ekel … vor sich selbst; verzog das Gesicht zu einem unschönen Grinsen – wäre sie nüchtern gewesen, hätte es sie eher erschreckt als belustigt. Und wieder griff sie zum Glas. „Nein, nein … das reicht jetzt nicht mehr …“. Sie setzte gleich die ganze Flasche an den Mund.

Selbstmord? Nein – niemals! … „Aber was soll ich tun – kann doch nicht mehr …“. Mühsam nur, halb betäubt vom vielen Alkohol, kamen ihr die Worte über die trockenen Lippen … Die Stimme – bloß noch ein Lallen, fast tonlos. Sie ließ sich zurückfallen … konnte nicht mehr. Ein tiefes Schluchzen … ein Strom von Tränen – minutenlang. Ihre Erschöpfung brach sich in einem lauten Stöhnen Bahn. …

***

Es klingelte. Was …? Wer …? Silvia fühlte sich so derart wirr und konfus im Kopf … – total unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. So rasch sie irgend konnte, setzte sie sich auf. … Um rasch wieder zusammenzusinken – die Arme knickten ihr weg. Oh, hätte sie nur nicht diese Flasche angerührt! Nach den raschen Bewegungen und – natürlich – dem Alkohol war ihr total schwindlig geworden; nüchtern – das war ihr klar – sah anders aus.

Wo sind meine Hausslipper?“. Silvia schaute unters Bett. Irgendjemand – wahrscheinlich sie selbst – musste sie dorthin geschleudert haben. Sie konnte ihm doch nicht barfuß gegenübertreten – niemals! Ja, ja, ja – denn er könnte es sein … musste es sein!

Silvia spürte ihr Herz im Halse pochen … . Sie konnte ihn doch nicht enttäuschen – nicht jetzt! Wenn er sie jetzt so sah … unmöglich! Doch – welche Rolle spielten in einer solchen Situation noch Äußerlichkeiten?!

Nachdem sie es, immer noch taumelnd, endlich geschafft hatte, sich am Bettrahmen hochzuziehen, verhedderte sie sich in ihrem immer noch zu langen Bademantel … mein Gott, sie hatte ihn schon seit ewigen Zeiten umnähen wollen … aber die Hausarbeit, der Mann … der Alltag! In ihrem Bemühen, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, stieß sie gegen das Nachttischchen mit dem Whiskyglas und der, inzwischen leeren Williams Christ-Flasche.

Beides, Flasche und Glas zerschellten auf dem Fliesenboden. Während vom Whiskyglas beim Aufprall lediglich am Rand ein Stück herausbrach, zerbrach die Flasche in mehrere Teile. „Was soll’s …“, dachte Silvia. Es gab jetzt Wichtigeres zu tun, als Hausfrau zu spielen und nach Kehrschaufel und Aufwischlappen zu suchen. Nicht registriert hatte sie dabei allerdings, dass das Glas noch halb voll gewesen war und sich sein Inhalt entsprechend auf dem Boden verteilt hatte.

Plumps …!“. Da musste Silvia doch selbst lachen … über sich und ihren Schwips. Dass sie einmal in einer Williams Christ-Lache ausrutschen würde, das hätte sie sich auch nicht träumen lassen. Im selben Moment des überaus harten Aufpralls spürte sie jedoch den scharfen, unglaublich brennenden Schmerz, als die dicke Scherbe des Flaschenbodens sich tief in das weiche Fleisch unterhalb ihrer Kniescheibe bohrte.

Fast gleichgültig sah sie zu, wie das Blut dort herauspulsierte – beinahe so, als stünde sie daneben und sähe jemandem Fremden zu, dem ein kleines Missgeschick widerfahren war. Sie dachte dabei eher an die riesigen Ölbohranlagen, die sie während ihrer Hochzeitsreise in Alaska gesehen hatte. Silvia lachte bitter auf. ER war da wieder mal nicht mit ihr zusammen dort gewesen … nicht bei ihr gewesen. Hatte sich schon damals lieber mit irgendwelchen Flittchen herumgetrieben – und das in ihren Flitterwochen!

Ihr Körper krümmte sich jetzt vor Schmerzen. Noch immer halb betäubt vom Alkohol kroch sie auf dem Boden entlang … laut stöhnend, unfähig aufzustehen – immer in Richtung Eingangstür. Mühsam und unter unendlichen Qualen robbte sie zentimeterweise vorwärts. Die rasenden Schmerzen in der klaffenden Wunde, in der noch immer die Glasscherbe steckte, ließen sie immer wieder innehalten … gegen die aufkeimende Ohnmacht ankämpfen. Aber sie musste doch … musste doch … . Er war es doch … bestimmt! Was sollte er denn von ihr denken, wenn sie ihm nicht aufmachte! Denn sie wollte es doch – wollte wieder bei ihm sein … mit ihm sein.

Gleich würde Silvia bei der Wohnungstüre sein … gleich … gleich. „Heinrich … Heinrich!“. Ihren ganzen letzten Rest an Hoffnung, ihre wahnsinnige Sehnsucht und gleichzeitig entsetzliche Todesangst legte sie in diesen einen Schrei. Währenddessen quoll das Blut im Pulsschlag ihres Herzens unablässig aus der tiefen Wunde. „Nein, nein – jetzt noch nicht!“. Ihre erschlaffende Hand hielt das Knie fest, dachte wohl, das Blut so stoppen zu können. „Ganz bestimmt werden wir wieder zusammen … .“ Die Stimme erstarb ihr.

Silvia begann am ganzen Körper zu zittern. Dort … da … die Wohnungstür – und da, ein Schatten … SEIN Schatten, der sich hinter dem Glas abzeichnete. Ihr wirrer Blick suchte den Nebel, der ihr ganz offensichtlich den Blick auf das Hier und Jetzt verstellen wollte, zu durchdringen. Verzweifelt kämpfte sie gegen die aufsteigende Übelkeit und Ohnmacht an.

… Und das Blut pumpte mitleidslos weiter das Leben aus Silvias Körper … . Doch noch war ihr Wille stärker. Die Finger ertasteten den kühlen Türrahmen … fanden schließlich bebend die Türklinke. Nur noch eine einzige, gewaltige Kraftanstrengung. Endlich … endlich (!) sprang die Tür auf.

***

Die Augen, welche die Umgebung nur noch verschwommen wahrnahmen, wollten nicht glauben, was sie sahen: Silvia war im Kreis gekrochen. Lediglich die Tür zum Schlafzimmer, die hinter ihr zugefallen war, stand nun wieder offen.

Mit einem dumpfen Ton schlug ihr Kopf auf. Die Lippen wollten noch ein Wort formen – doch blieb es unausgesprochen.

***

Die Augen jedoch wollten immer noch kämpfen … nicht aufgeben. Nur noch ein einziger – ein letzter – Blick dort drüben hin … in die Ecke … wo sie IHN zuvor untergebracht hatte. Was hätte Silvia auch anders tun sollen … tun können, nachdem er angekündigt hatte, sie für immer zu verlassen … allein zu lassen?! Und dies noch dazu mit einer Stimme, die an Grausamkeit nicht zu überbieten war. Doch woher sollte er auch wissen, dass er mit jedem Wort, jeder Silbe gleichzeitig ein Stück aus ihrem Herzen schnitt — diesem Herzen, das nur Liebe kannte … eine Liebe, deren Größe er jedoch schon immer verkannt hatte.

Sie musste es einfach tun … es ging gar nicht anders. Und so hatte sie, ohne großartig nachzudenken, nach dem nächstbesten Gegenstand – der in Reichweite stehenden, vollen Williams Christ-Flasche – gegriffen und ihn niedergeschlagen.