Erlösung

Shortstory von Guido Sawatzki

„Sein Brustbein wurde aufgeschnitten.“ Ihre Feststellung mit Blick auf den Neuen am Tisch war nüchtern und sachlich; so, wie hier im Speisesaal über vieles – völlig emotionslos — schon morgens zwischen Rührei mit Schinken und Marmeladebrötchen geredet wurde.

Nein, das war für Bernds Geschmack denn doch etwas zu krass. Um sich an so etwas zu gewöhnen, müsste man ihm schon noch etwas Zeit lassen; immerhin war dies heute erst sein dritter Tag. Aber gut, schließlich war er es ja gewesen, der gefragt hatte … und die Antwort hatte er postwendend erhalten. Zwar nicht so, wie er das von einer Frau erwartet hätte — aber die Erklärung war sicherlich korrekt. Und wer bei Rote Beete-Salat gleich an eine Blutlache denkt, sollte vielleicht weniger Schauergeschichten lesen.

***

Überhaupt lagen Bernd so unendlich viele Fragen auf der Zunge. Es interessierte ihn beispielsweise brennend, was es mit diesen schwarzen Westen auf sich hatte, mit denen einige Patienten hier herumliefen und die an einen Harnisch aus dem 30-jährigen Krieg erinnerten. Die hätten die Aufgabe, den Brustkorb nach entsprechenden Operationen zusammenzuhalten, hatte ihn einer der Pfleger bereitwillig aufgeklärt. Ohne ein solches Hilfsmittel könnte der Patient sicherlich nicht so frei und unbeschwert umherlaufen. Respekt, Respekt – die Leute hier kennen sich aus. Bernd war beeindruckt.

Dennoch war es eine Zumutung für sein Seelenleben, dass ausgerechnet seine Tischnachbarin mit ihrer Bemerkung über das Brustbein seinen Appetit gerade etwas verdarb … er fühlte sich in diesem Moment unmittelbar an seine Kindheit erinnert. Wenn es Huhn gab und seine Mutter das gebratene Tier bei Tisch mit einer riesigen Geflügelschere zerteilte … und dabei das Geräusch der brechenden Knochen – irgendwie gruselig. Sicherlich gehörte das dazu – schließlich wollte deswegen niemand auf das leckere Essen verzichten -, aber dennoch … .

Nein, das hätte nicht sein müssen – und dann ausgerechnet auch noch von IHR – wo sie doch auf der Liste seiner persönlichen Favoritinnen ganz oben stand. Stammte die etwa aus einer Metzgerfamilie? Er beschloss, ihr gegenüber lieber zurückhaltender zu sein.

Vielleicht war es nach so kurzer Zeit hier, in der Reha-Klinik, tatsächlich noch ein wenig voreilig, die Fühler nach „Bekanntschaften“ ausstrecken zu wollen – aber Bernd war nun mal kein Kind von Traurigkeit. Allein sein konnte er nur schwer ertragen.

Im Grunde genommen fand er sie überaus attraktiv … ja, sie passte durchaus in sein Beuteschema. Eines störte ihn auf den ersten Blick allerdings gewaltig. So schrullig, wie sie sich kleidete, mit ihrem mehrfach um den Körper geschlungenen Sari, schrammte sie wirklich haarscharf an seiner persönlichen Grenze des Erträglichen vorbei. Wie konnte sie nur so herumlaufen?! Als er sie auf ihren ungewöhnlichen Aufzug ansprach, erzählte sie ihm von einem längeren Aufenthalt in Indien und wie praktisch sie seither diese Kleidung fände. „Ihnen würde das übrigens auch stehen“, meinte sie spitzbübisch.

„Ein Sari?“, fragte Bernd entsetzt – „nein, aber ein Dhoti, das männliche Gegenstück zum Sari. Gerade bei hohen Temperaturen sind diese bequemen, luftigen Kleidungsstücke angenehm zu tragen.“ Bernd war skeptisch, zumal man hierzulande nicht mit tropischen Bedingungen rechnen musste. Deshalb war seine Bereitschaft zur Umsetzung dieser Idee nicht sonderlich ausgeprägt … mochte seine Tischnachbarin noch so sympathisch und sexy sein.

***

Zurück zur Tischrunde.

Vielleicht weil sie ihn, den Neuling testen wollten, möglicherweise auch, weil sie ihn für etwas unbedarft hielten – erwähnten sie im selben Atemzug die ungewöhnlich zahlreichen Suizide in dieser Gegend. Ursächlich hierfür war wohl eine Brücke, die aufgrund ihrer außergewöhnlichen Höhe ein beliebtes Ausflugsziel war.

Weil es sich um eine ungesicherte Eisenbahnbrücke handelte, war deren Betreten für Unbefugte ohnehin untersagt. Wer das Verbot ignorierte, der ging ein hohes Risiko ein. Die eingleisige Strecke diente überwiegend dem Güterverkehr – infolgedessen gab es keinen festen Fahrplan wie beispielsweise beim Personennahverkehr. Zudem reichte der Raum links und rechts des Gleises gerade so für einen waghalsigen Spaziergänger. Die Gefahr, von einem vorbeifahrenden Zug mitgerissen zu werden und in die Tiefe zu stürzen, war also relativ hoch.

Wenn sich also jemand auf die Brücke wagte, konnte man fast sicher sein, dass dies in selbstmörderischer Absicht geschah. Die Chancen, einen Sturz in diese Schlucht zu überleben, standen in jedem Fall schlecht.

Nach Auskunft von Bernds Tischnachbarn war vor allem der Freitagabend eine besonders gute Zeit … zum Gaffen – und zum Springen! Was für ein Zufall, dachte Bernd bei sich … heute war Freitag – und die Brücke war auch noch ganz in ihrer Nähe.

Puuh – wie gruselig war das denn! Ein Thema schlimmer als das andere – zuerst das aufgeschnittene Brustbein, dann die Brücke … . Ganz schön heftig für den Anfang eines unbeschwerten und vor allem heilsamen Aufenthalts in einer Rehabilitationseinrichtung!

Bernd war dieses Thema zwar persönlich sehr wichtig – vor allem aber wollte er seine Tischnachbarin, Amisha, beeindrucken –-, deshalb nutzte er die Gelegenheit, ausführlich seinen Standpunkt zum Thema Suizid zum Besten zu geben. Was manche Leute dazu bewege, von einer Brücke zu springen, bleibe auf ewig deren Geheimnis – außer, ein Abschiedsbrief wurde hinterlassen. Dieser Vorgriff auf einen natürlichen Tod sei allerdings – Bernd streckte warnend den Zeigefinger seiner rechten Hand in die Höhe – mit einem unsicheren Ausgang verbunden; so könnten die Springer dabei zwar wie gewünscht den Tod erleiden, möglicherweise aber auch „nur“ schwer verletzt sein. Das sei diesen Menschen aber egal. Sie würden es immer und immer wieder versuchen – denn für sie sei der Tod das kleinere Übel.

Bernd holte tief Luft, um fortzufahren, da stoppte sein Gegenüber, ein älterer, grauhaariger Herr, seinen Redefluss. „Was ist denn das für ein Unsinn, und wie unsensibel muss man überhaupt sein, um hier, bei Tisch, und noch dazu in einem Haus wie diesem, ein solches Thema breitzutreten.“

„Guter Mann! Bevor Sie sich weiter ereifern, erklären Sie mir doch bitte, welcher Punkt in meinen Ausführungen Ihrer Meinung nach nicht korrekt war. Glauben Sie mir, mit dieser Thematik habe ich mich intensiv auseinandergesetzt. Ich kenne mich damit sowohl auf der menschlichen wie auch auf der sachlichen Ebene wahrhaftig aus. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass man hier mit Vernunft allein nicht weit kommt – mit Emotionen allerdings ebenso wenig“, entgegnete Bernd selbstbewusst.

Als sein Gegenüber nichts erwiderte, fuhr er fort. „Für mich spielen bei einem Suizid vor allem die Motive eine Rolle – und davon gibt es genügend: Von enttäuschter Liebe über Verzweiflung bis zum inneren, kaum auszuhaltenden Schmerz über den Tod eines geliebten Menschen und der Trauer, die einen auffrisst. …“

Bernd hielt abrupt inne. Er spürte, dass er an einer roten Linie angelangt war – eine Grenze, die an etwas Hochsensiblem in seinem Innersten rührte. Etwas, das nichts, aber auch gar nichts im grellen Licht der Öffentlichkeit verloren hatte. Zu sehr erinnerten ihn seine Worte an seine eigene Geschichte. Und er war ganz bestimmt nicht hierhergekommen, um Persönliches zu erörtern.

Um seinem Gegenüber den Wind aus den Segeln zu nehmen, schoss Bernd gleich hinterher. „Und Sie, guter Mann, waren Sie übrigens schon mal bei der Brücke? Und sind Sie dort auf dem äußersten Rand gestanden und haben sich vorgestellt, ‚Was wäre, wenn‘? Wäre interessant für mich zu wissen, ob Sie danach immer noch meinen, dass ich Unsinn rede!“

Sein Gegenspieler grinste Bernd an. „Nein, bisher nicht, aber falls Sie mal Lust haben sollten, runterzuspringen – sagen Sie mir vorher Bescheid. Ich bringe dann meine Kamera mit. Sie müssen wissen, ich war früher Pressefotograf. Meine Fotoausrüstung schleppe ich nach Möglichkeit immer mit – man kann ja nie wissen. Sie liegt auch jetzt griffbereit in meinem Zimmer!“.

Bernd verdrehte die Augen. „Sie erhalten rechtzeitig Nachricht! Ich versprech’s.“

***

Amisha, Bernds neue indische Bekanntschaft, war von der Debatte sichtlich aufgewühlt. Das machte ihn dann doch neugierig, zumal er sich zu ihr sehr hingezogen fühlte. „Ich habe den Eindruck, dass dir der kleine Disput bei Tisch gerade eben ziemlich nahegegangen ist. Darf ich fragen, ob es einen Grund dafür gibt?“

Amisha biss sich auf die Lippen, schaute Bernd lange an. Ihm war, als würde sie abwägen, inwieweit sie ihm trauen konnte. Fast hatte er sich schon damit abgefunden, einen Korb zu bekommen, als sie unvermittelt zu sprechen begann.

Irgendwann habe sie von den rastlosen Menschen hier in Deutschland die Nase voll gehabt und sich nach einem Kurzurlaub in Indien spontan entschlossen, Land und Leute näher kennenzulernen. Dabei sei sie in einem Dorf auf dem Lande hängengeblieben und habe dort einen älteren Mann kennen- und lieben gelernt. Zwei Jahre lang hätten sie glücklich und in Frieden zusammengelebt. Dazu müsse man wissen, dass die Familie, in die sie hineingeheiratet habe, ihr Leben streng nach dem Hinduglauben gestalte. Für sie sei es selbstverständlich gewesen, sich der Religion ihres Mannes anzuschließen. Das habe sie nicht nur oberflächlich getan oder etwa lediglich aus Liebe zu ihm. Vielmehr hätte sie sich intensiv mit dem Hinduismus auseinandergesetzt und dessen ethische Leitprinzipien und Verhaltensnormen aus innerer Überzeugung übernommen. Bald nach ihrer Eheschließung sei ihr Mann jedoch schwer erkrankt und wenig später verstorben.

Mit dem Tod des Familienoberhaupts habe sich dann alles verändert. Zu ihrem Entsetzen habe einer der männlichen Verwandten noch am Todestag wie selbstverständlich die Sprache auf das Thema Witwenverbrennung gebracht. Zwar sei diese in Indien schon seit 1829 verboten, dennoch sei diese in manchen Regionen immer noch Praxis und eine Frage der Ehre; so auch in dem abgelegenen Ort, in welchem sie mit der Familie gelebt habe.

Lasse sich dort eine Witwe nicht gemeinsam mit ihrem verstorbenen Gatten verbrennen, erklärte sie mir, dann werde diese von der Familie quasi verstoßen, sei rechtlos und habe darüber hinaus das Problem der Versorgung. Somit laufe sie Gefahr, irgendwann als Bettlerin oder Prostituierte zu enden.

Sie sei zutiefst schockiert gewesen, erzählte Amisha weiter. Ihren Mann habe sie tatsächlich geliebt. Lange vor ihrer ersten Begegnung hätten sie sich Briefe geschrieben, in denen sie ihre intimsten Gedanken und Gefühle austauschten. Diese Briefe habe sie heute noch und hüte sie wie einen Schatz. Ganz bestimmt hätte ihr Mann niemals ihrer Verbrennung zugestimmt – auch wenn es der Familientradition widersprechen würde.

Ebenfalls habe er ihre christlichen und westlichen Wurzeln stets akzeptiert; im Gegensatz zu dem oftmals engstirnigen Denken sowohl in seiner Familie als auch im Dorf sei er weltoffen gewesen und habe sie in keiner Weise in irgendeine Richtung gedrängt. Daran habe sie, Amisha, die mit der westlichen Wertekultur großgeworden sei, sich nach seinem Tod schmerzlich erinnert, fuhr sie fort. Nach langem innerem Kampf habe sie aber keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als sich dem mittlerweile übermächtig gewordenen Druck vonseiten der Familie durch sofortige Flucht zu entziehen.

Seitdem fühle sie sich in mehrfacher Hinsicht schuldig; zum einen, weil sie die Familie, die sie doch einst so liebevoll aufgenommen hatte, enttäuscht habe. Ihr Gewissen belaste jedoch besonders die Erkenntnis, dass es ihr – zumindest aus der Sicht der Familie – während dieser Jahre nicht gelungen war, die vorherrschende Lebensart für sich zu verinnerlichen; ganz abgesehen davon, dass sie damit zugleich große Schande über die Gemeinschaft der Familie ihres Mannes gebracht habe.

Amisha konnte ihren Schmerz nicht länger zurückhalten. Sie schlug die Hände vors Gesicht und fing laut zu schluchzen an. Die Leute an unserem Tisch wurden schon aufmerksam. Erst als Bernd seinen Arm tröstend um sie legte, beruhigte sie sich ein wenig. Er versuchte, sie zu überzeugen, dass sie das Richtige getan habe, weil jeder Mensch das Recht habe, selbst über sich zu entscheiden. „Da kann und darf sich keine Religion einmischen, Amisha!“.

Ein Blick in ihre Augen ließ ihn jedoch erkennen, dass solche Sätze an ihr abprallten. Jene zwei Jahre auf dem indischen Subkontinent mit seiner völlig andersartigen Kultur und vor allem ihr Eintauchen in die Welt des Hinduismus hatten bei ihr offensichtlich tiefe Spuren in Geist und Seele hinterlassen.

Nach einer kurzen Unterbrechung, in der sie beide schwiegen und ihren Gedanken nachhingen, nahm Amisha den Gesprächsfaden wieder auf. „Du hattest vorhin gemeint, dass du ebenfalls Erfahrungen mit dem Tod gemacht hast, Bernd. In meinen Ohren klingt das sehr rätselhaft. Bitte erzähl mir etwas darüber.“

***

Bernd zögerte. Er hatte das Gefühl, sich selbst eine Falle gestellt zu haben – und das wieder mal aus purer Eitelkeit … weil er Amisha hatte gefallen wollen. Sollte er etwa von seiner Frau erzählen, deren Tod vor zehn Jahren er bis heute nicht verarbeitet hatte? Davon, dass er sich seitdem von einem „Ereignis“ zum nächsten hangelte? Von ihrem Geburtstag zu ihrem Todestag – und das Jahr für Jahr? Und dass er sich jedes Mal fest vornahm, das nächste Datum nicht mehr zu erleben?

Dass ihm sein Leben schon lange sinnlos vorkam?

Der heutige Freitag war tatsächlich auch noch IHR Todestag. Freitag, der Tag der Lebensmüden und der Gaffer. Bernd lachte bitter auf. Warum eigentlich sollte er Amisha nicht seine Geschichte erzählen? Vielleicht würde das ein wenig ihren Schmerz – und ein bisschen auch seinen – lindern.

„Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang, Amisha … jetzt gleich? Draußen, in der freien Natur, lässt es sich besser reden. Ich glaube, das könnte uns beiden guttun.“

Zwar war Bernd gerade mal drei Tage hier, dennoch war er schon jetzt für jede Gelegenheit dankbar, dem Reha-Alltag zu entkommen. Ihm war schon bewusst, dass mit Lungenproblemen nicht zu spaßen war und deshalb nahm er auch sämtliche Therapieangebote an und übte fleißig mit – trotzdem sehnte er das Ende seines Aufenthalts hier herbei … überhaupt das Ende an sich, wenn er ehrlich zu sich selbst sein wollte.

Seine Freizeit nutzte er überwiegend dafür, seine Gedanken zusammenzufassen und niederzuschreiben. So entstand eine Art Tagebuch, in dem Fantasie und Gegenwart miteinander konkurrierten. Wenn dann noch die Fantasie zur Wirklichkeit wurde … .

Bernd liebte es, kleine surreale Elemente in seine Geschichten einfließen zu lassen. Da empfand er seine derzeitige Umgebung fast wie das Tüpfelchen auf dem „i“ — vor allem jetzt die Sache mit der Todesbrücke. Die Erzählungen darüber hatten ihn mehr als nur inspiriert; zumal Charaktertypen wie diese Amisha noch zusätzlich Stoff lieferten – und möglicherweise Teil der Geschichte wurden. Bernd spürte, dass er wieder einmal dabei war, über sich selbst hinauszuwachsen – und bereit, bis hart an die sogenannten moralischen Grenzen zu gehen!

Witwenselbstmord musste es nicht bloß in Indien geben. Vielleicht konnte er Amisha sogar „überreden“ … .

Die letzten Stunden hatten in Bernd etwas wachgerufen, was er jedoch nicht genau benennen konnte. Schon etliche Male hatte er in der Vergangenheit festgestellt, dass er manchmal plötzlich ein „anderer“ wurde, wenn die „dunkle Seite“ in ihm angestoßen wurde, – zu jemandem, den er kaum wiedererkannte … er dann völlig anders „tickte“ Es war eine Seite, die er eigentlich verabscheute. Ganz besonders schlimm war es, wenn er die Kontrolle darüber verlor.

In diesem Moment hatte er das sichere Gefühl, dass es wieder mal soweit war … und es kein Entrinnen gab.

„Treffen wir uns in einer halben Stunde an der Rezeption, Amisha? Ich muss nur noch ein paar Sachen zusammensuchen. Ein Regencape wäre auch nicht schlecht. Bis gleich.“ Er winkte ihr zu.

***

Amisha musste fast eine dreiviertel Stunde warten. „Sorry, Amisha, was meinst du, wie lange ich gebraucht habe, endlich mein Cape zu finden.“

Amisha verdrehte nur die Augen. „Männer!“, seufzte sie.

„Du, Bernd, hast du den Wegweiser auch gesehen?“.

Und ob er den gesehen hatte … und genau das war ja sein Ziel – die Brücke. Bereits vorhin bei Tisch hatte er überlegt, dass eine Stippvisite zu einem solchen, anscheinend berüchtigten Ort eine ganz lehrreiche Begegnung sein könnte und sie beide möglicherweise ihrem gemeinsamen Ziel näherbrächte. Schade nur, dass der Nebel zunehmend dichter wurde. Den Ausblick von der Brücke konnte man sich da wahrscheinlich abschminken. Andererseits passte genau das zu der Story, die er im Kopf hatte.

„Da ist sie … siehst du sie auch, Bernd?!“. Amisha schien aufgeregt zu sein. Der Nebel schien an einigen Stellen aufzureißen. Ihr bedeutete die Brücke vermutlich mehr als den meisten anderen Besuchern hier. Diese Brücke mit den düsteren, unheilvollen Geschichten war für sie vor allem angesichts des Schattens, der sich auf ihr Leben gelegt hatte, nicht nur ein Bauwerk … für Bernd im Übrigen auch nicht. Er sah in ihr so etwas wie ein Vanitas-Symbol … ein Zeichen für Vergänglichkeit und Tod – und damit den Hinweis auf die Endlichkeit auch ihrer beider Leben.

„Komm, Amisha, da vorne ist ein überdachtes Plätzchen. Setzen wir uns doch dort etwas hin. Die vorbeiziehenden Nebelfetzen laden zwar nicht unbedingt zum Kuscheln ein, aber etwas Prickelndes hat dieser Ort mit seiner düsteren Geschichte schon an sich – finde ich zumindest. Vor allem sind wegen des Wetters so gut wie keine Leute unterwegs … . Ich habe uns auch etwas Heißes zum Aufwärmen mitgebracht.“

Amisha schaute ihn mit großen, fragenden Augen an.

„War das bei euch nicht üblich? Bei uns war es immer Brauch auf unseren Wanderungen, dass wir mindestens eine Getränkepause eingelegt haben. Kennst du das etwa nicht?“

Amisha sagte nichts, setzte sich aber zu ihm. Ja, bei sonnigem Wetter war das hier wirklich ein lauschiges Plätzchen; sogar einen kleinen, aus einem Baumstumpf geschnitzten Tisch gab es in der Mitte des Unterschlupfes.

Amisha war irgendwie mulmig zumute. Unsinn, dachte sie, wahrscheinlich machte ihr ja auch nur der Nebel Angst, der sich wie ein schicksalsschwerer Schleier um sie beide gelegt hatte … nur ab und zu gab er den Blick auf ein Stück der Brücke vor ihnen frei.

Bernd goss aus einer mitgebrachten Warmhaltekanne Tee ein. „Habe ich gerade vorhin noch rasch aus dem großen Teekessel abgefüllt, bevor wir aufbrachen. … Um doch noch auf unser Gespräch von vorhin zurückzukommen, Amisha: Wenn man, wie du im Falle deiner Familie, schwere Schuld auf sich geladen hat, dann muss dieser Zustand ja nicht auf ewig beibehalten werden – da ist doch eigentlich jeder bestrebt, sich davon wieder reinzuwaschen … sich innerlich zu befreien. Ein solcher Wunsch ist doch ganz normal — habe ich Recht, Amisha?“

Er schob ihr einen der beiden Pappbecher zu. „Komm, trink. Er wird uns guttun, gerade bei diesem abscheulichen Wetter.“

Amisha setzte den Becher an die Lippen … wollte trinken. Zögerte. Irgendetwas in ihr stemmte sich dagegen. Ein Hustenanfall schüttelte sie durch und durch; sie konnte den Becher gerade noch abstellen. Bernd stand sofort auf und klopfte ihr besorgt auf den Rücken.

„Danke, danke … es geht schon wieder. Prost, Bernd!“ Das noch warme Getränk tat ihr gut. Dankbar sah sie Bernd an.

„Ich habe übrigens auch noch über unser Gespräch vorhin bei Tisch gegrübelt. Glaubst du nicht auch, Bernd, dass je mehr und je öfter sich diese Todeskandidaten zu dieser Grenze zwischen Leben und Tod sowohl gedanklich wie planerisch herantasten, desto erleichterter sie letzten Endes doch sein müssten?“

Amisha erhob sich. „Komm, Bernd, lass uns zur Brücke vorgehen.“. Sie trat zu ihm hin, nahm ihm den mittlerweile ebenfalls leeren Becher aus der Hand und zog ihn zu sich hoch. Dabei sah sie Schweiß auf seiner Stirn stehen; auch schien er beim Aufstehen leicht zu taumeln.

Und wieder musste sie an den Tee denken … und an ihre Hustenattacke.

Dicht hintereinander und Hand in Hand betraten sie den schmalen Steg neben dem Gleis. Sie hatten schon fast ein Drittel geschafft, als sich Bernd an den Hals griff; ihm war plötzlich heiß geworden. Wahrscheinlich der Tee, dachte er – und natürlich Amishas anregende Nähe.

„Darf ich deinen Satz weiterführen, Amisha?“ … seine Stimme klang dabei schon etwas brüchig.

„… Erleichtert deshalb, liebe Amisha, weil sie den Tod als Erlösung für sich und ihre Nöte sehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies auch auf Leute wie dich zutrifft, die mit ihrer Schuld nicht … länger leben wol… .“

Bernd schaffte es nicht mehr, den Satz zu Ende zu bringen. Dabei hatte er vorhin doch alles so perfekt arrangiert. Aber irgendwas passte da jetzt nicht mehr zusammen … er war verwirrt, bekam es einfach nicht mehr auf die Reihe. Bernd sackte etwas nach vorn in die Knie; Amisha musste ihn stützen.

„Ja, Bernd … was wolltest du sagen? Beeil Dich … der Zug kommt bald. Du musst jetzt nur noch ein kleines Stückchen nach vorn rutschen. Ich weiß ja nicht, was du in den einen der beiden Teebecher getan hast, die ich dann allerdings bei meiner vorgetäuschten Hustenattacke vertauscht habe; aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.“

Bernd schüttelte ungläubig den Kopf, wollte offenbar noch etwas sagen, brachte aber keinen Ton mehr heraus.

„Ganz ehrlich, Bernd – ich habe schon vermutet, dass du mir dabei helfen willst, mich von meiner riesigen Schuld zu befreien … jedoch würde ich dafür bestimmt nicht diesen Weg wählen. Verzeih mir, aber ich konnte Dein Geschenk nicht annehmen.

Versuch‘ es positiv zu sehen, Bernd – denn dadurch kann ich ja jetzt DIR helfen.“

„Leb wohl!“.

Sie brauchte nur loszulassen, damit die Tiefe ihn endgültig aufnahm.

***

Während Amisha noch rasch Bernds „Picknicksachen“ zusammensuchte, fiel ihr ein merkwürdiges Blinken auf der anderen Seite der Brücke auf. Doch Zeit, nachzusehen, wollte sie sich jetzt keine nehmen – galt es doch, etwaige Spuren zu beseitigen.

Drüben hatte währenddessen der grauhaarige Fotograf nochmals einen prüfenden Blick auf den Bildschirm seiner Kamera geworfen. Na also, dachte er bei sich. Hat es sich doch wieder mal gelohnt. Zum Glück hat sich der Nebel in den entscheidenden Momenten rechtzeitig gelichtet. Bevor er die Kamera jedoch endgültig wegpackte, pustete er, gründlich wie er war, rasch noch ein imaginäres Staubkörnchen von deren Linse.

Und wegen seines Honorars machte sich der alte Mann schon mal überhaupt keine Sorgen. Zum einen hatte Bernd im Voraus bezahlt – und zum anderen war da ja noch Amisha.