Shortstory von Guido Sawatzki
Die Art, wie er sie ansah, war eindeutig. Allein – sie hatte diesen bohrenden Blick aus den hasserfüllten Augen schon so oft auf sich – gegen sich – gerichtet gesehen, dass es sie fast kaltließ … eigentlich schon amüsierte. Sie verstand es mittlerweile als ein Spiel – diese offene, unverhohlene Drohung … dass jetzt alles passieren könnte. Alles. Ja, tatsächlich alles.
Ein andermal konnte es sein, dass Helga sich auf diese, seine Herausforderung einließ – und zwar auf dieselbe Weise. Sie wusste genau, dass sie ihn damit verunsicherte … erkannte an seinem flackernden Blick, wie er innerlich zurückwich wie ein geprügelter Hund – gerade so, als ob man einen Schalter umgelegt hätte … von einer Sekunde auf die andere.
Und genau dafür verachtete sie ihn … dass er immer wieder den Schwanz einzog. Und ja – es konnte auch passieren, dass sie ihn danach wochenlang auf Distanz hielt … im Bett. Sie wusste genau, wie wahnsinnig ihn das machte. Wenn sie ihm dann wieder entgegenkam, konnte sie sicher sein, dass ihr Zusammensein sich in den darauffolgenden Stunden in einer unvergleichlichen, beispiellosen Wildheit abspielte, die sie für die Wochen ihrer freiwilligen Enthaltsamkeit dann voll und ganz entschädigte. Ohne jegliche Übertreibung würde sie dieses Phänomen als eine, sämtliche Konventionen sprengende, lustvolle Naturgewalt beschreiben, mit der er über sie kam … kommen durfte.
Ob sie ihn liebte, diese Frage stellte sich ihr schon lange nicht mehr. Sie hatte sie verdrängt … wollte sich nicht mehr damit quälen – denn irgendwo tief drinnen, da waren sie noch, die Gefühle … die von früher. Doch wenn sie diese an sich heranließ, dann litt sie. Und das war es nicht wert … das war kein Mann wert. Überhaupt hatte er ihr doch schon seit ewigen Zeiten nichts mehr mitgebracht – nicht einmal ein paar weiße Lilien, die sie doch so sehr liebte. Auch schon deshalb war die Frage, ob denn er SIE liebte, eigentlich überflüssig … machte keinen Sinn … mehr.
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Dass die Situation im Moment wieder einmal eskalierte, daran war sie dieses Mal tatsächlich selber schuld. Hatte sie sich doch entsetzlich darüber echauffiert, was er da wieder mal von irgendeinem Wühltisch bei einem x-beliebigen Billigdiscounter angeschleppt hatte: Einen Zettelspieß!
Allein schon die Bezeichnung regte sie auf … Zettelspieß! Mann – das Wort an sich sprang einem regelrecht ins Auge! So etwas kaufte man doch schon aus Prinzip nicht – und schon gar nicht als Mann, der etwas auf sich hielt … mein Gott, wie altmodisch – quasi von vor-vor-gestern! Nein, in ihrem Denken hatte solch ein Gegenstand keinen Platz. Sie las ihrem Mann das Wort auf der Verpackung gleich zweimal laut vor. Mit etwas Glück sollte dann vielleicht sogar er in seiner Beschränktheit darauf kommen, wie kleinbürgerlich dieses Ding war, das er da angeschleppt hatte. Aber nein – kein Gedanke daran. Er schien nicht zu erkennen, was sie so sehr daran störte. Seine Bemerkung, „… war im Sonderangebot“ setzte allem dann noch die Krone auf. Sie hätte platzen können vor Wut.
Überhaupt, wer benutzte heutzutage noch so etwas!? Das konnten doch nur solche Typen sein, die nicht in der Lage waren, ihre Belege gleich ordentlich in Ordnern abzulegen – und stattdessen diesen ganzen Wust aus Schmierzetteln, Kassenbons, Parktickets, Busfahrscheinen und wer weiß was sonst noch alles auf diesem so genannten Zettelspieß zwischenlagerten.
Überhaupt hatte die Handbewegung, also das Aufspießen, für sie etwas Gewalttätiges an sich, so, wie etwas, das nicht mehr in diese Zeit passte. Auch musste sie dabei an gewisse, abnormale Sammler denken, die sich regelrecht daran aufgeilten, wenn sie die Möglichkeit bekamen, ihre Jagdtrophäen aufzuspießen, um sie dann mit stolzgeschwellter Brust ihrer Sammlung hinzuzufügen. Allein die Vorstellung, dass sich ihr eigener Mann mit so etwas identifizieren könnte, erzeugte bei ihr einen entsetzlichen Ekel – ja, sie hasste ihn sogar dafür. Das sagte sie ihm nicht nur geradewegs ins Gesicht, sie zeigte es ihm auch … ließ ihn dafür büßen. Und das wiederum provozierte ihn … rief dann am Ende – beinahe automatisch – erneut diesen Blick à la geprügelter Hund bei ihm hervor … demaskierte ihn.
Überhaupt hatte sie die Erfahrung gemacht, dass er in ihrem Eheleben fast ständig „Maske“ trug. Anders, so dachte sie, könnte es diesem Menschen doch auch gar nicht möglich sein, den gemeinsamen Alltag an ihrer Seite zu ertragen. Entweder müsste er ihr gegenüber gewalttätig werden – also zuschlagen – oder sich von der Brücke stürzen. Letzteres jedoch traute sie ihm nicht zu … dieser Feigling, der er in ihren Augen war. Und zuschlagen? Nein, das wäre noch unwahrscheinlicher. Allein der Gedanke daran würde ihn, dieses Weichei, seelisch kaputtmachen!
Egal. Derartige Spekulationen machten keinen Sinn. Manchmal ertappte sie sich bei dem Gedanken, wie bequem es doch eigentlich war, ihren Mann wie ein Spielzeug zu besitzen. Eines, das eigentlich immer gehorchte … kein eigenes Leben für sich beanspruchte. Pflegeleicht also; abgesehen von ein paar Schrullen … manchmal sogar ganz absonderlichen.
Eine dieser Schrullen war seine Musik. Dafür, dachte sie manchmal, würde er sogar über Leichen gehen. Sie selbst hatte mit Musik überhaupt nichts am Hut – schon gar nicht mit klassischer. Musikgedudel, so ihre feste Meinung, lenkte vom Wesentlichen ab. Er dagegen schien einen regelrechten Hype dafür entwickelt zu haben. Vor allem aber nervte es sie, dass er Musikstücke, die ihm gefielen, in einer Endlosschleife abspulte; so konnte er beispielsweise von Opernarien nie genug bekommen. Um dem zu entrinnen, hatte sie ihm sogar Kopfhörer geschenkt … die er in ihrer Gegenwart allerdings nie aufsetzte. Das nehme ihm die Klangfarbe, meinte er. Nein – da musste eine Lösung her. Auf Dauer ging das nicht gut. Selbst wenn er sich ein Stockwerk höher verzog und sich dort seiner Musikleidenschaft hingab, änderte das nichts.
Apropos hingeben … . Solche Aktionen wie der Kauf überflüssiger und vor allem so scheußlicher Dinge wie dieser Zettelspieß steigerten ihre Lust auf ihn natürlich nicht sonderlich. Eine kalte Dusche war das jedes Mal … unbedingt! Dass der das aber auch gar nicht merkte? Nun ja – was konnte man von einem tumben Typen wie ihm auch anderes erwarten?
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Knut war am Boden zerstört. Musste sie denn immer gleich solch eine Szene hinlegen? Wegen Nichtigkeiten! Er war danach wieder auf sein Zimmer geschlichen … tröstete sich mit seiner Musik. War dies doch eines der wenigen Dinge, womit er sich identifizierte. Überhaupt musste sie doch froh sein, dass er mit der Musik etwas gefunden hatte, was den Druck von ihm, aber auch aus ihrer oftmals spannungsgeladenen Beziehung nahm.
Er fürchtete sich nur vor dem Moment, wenn das Equipment, womit er sich das Dachgeschoss zum Homestudio ausbauen wollte, angeliefert würde. Die Szene, die sie ihm dann machen würde, konnte er sich schon jetzt leibhaftig vorstellen. Bereits vor Monaten hatte er sich heimlich einen Experten für Akustikberatung nach Hause kommen lassen. Der hatte ihm übrigens auch davon erzählt, wie gefährlich Schallwellen sein konnten. So sei bereits aus der Antike bekannt, dass die Todesstrafe durch langanhaltendes Trommeln vollzogen wurde. Wie man heutzutage weiß, platzten bei Schallpegeln von mehr als 200 Dezibel die Lungenbläschen durch den Druck des Schalls. Nicht ganz ungefährlich also, wenn sich beispielsweise mal seine Frau aus purer Lust und Tollerei an seiner Anlage zu schaffen machte … oder aber – Knut blieb bei dem bloßen Gedanken daran fast das Herz stehen – versuchte, sie zu manipulieren.
Knut hielt einen Moment lang inne. Er mit seiner Fachkenntnis könnte da schon etwas drehen, andererseits wollte er aber nicht, dass ihr etwas zustieß … eigentlich. Denn im Grunde seines Herzens liebte er sie immer noch. Sehr. Natürlich setzte es ihm zu, wenn sie ihn erniedrigte … wochenlang. Nein, das war nicht schön von ihr. Das war geradezu hässlich. Es war gewissermaßen ihre dunkle Seite … eine verzerrte Fratze – eine Gestalt, die so gar nicht zu ihr zu passen schien … die einer Fremden!
Doch dass sein Musikgeschmack so absonderlich war, wie seine Frau immer behauptete, das sahen Andere völlig anders. So hatte er vor kurzem zufällig in der örtlichen Bäckerei Nancy, eine frühere Freundin getroffen. Eine Riesenüberraschung war das für beide gewesen – einander nach bestimmt 15 Jahren wiederzusehen. „Du hast dich aber auch gar nicht verändert .. nur ein bisschen ernster bist du geworden“, hatte sie zu ihm gemeint – und ihn dabei mit ihren lustigen blauen Augen angestrahlt – so sehr, dass er spürte, wie er rot wurde. Bei Gott, wie war ihm warm ums Herz geworden … eine Frau, die sich für ihn interessierte, Gefühle für ihn zeigte – wieder zeigte. Denn damals waren sie ziemlich lange ein Paar gewesen; bis sie ihn abservierte. Er war ihr wohl zu langweilig geworden … so hatte sie es jedenfalls damals begründet.
Aber jetzt schien alles anders. Allein, wie sie ihn ansah … so intensiv.
Und sie kannte sogar Felix Mendelssohn Bartholdy. „Ja – den liebe ich auch … sogar ganz besonders“, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert. Zum Beweis summte sie sogar zwei Stellen aus dem Concerto leise vor sich hin. „Du – wir müssen das unbedingt mal zusammen anhören“, hatte er spontan gemeint – um sich dafür im selben Augenblick fast selbst auf den Mund zu schlagen. Wie sollte das denn gehen? Er konnte sie schlecht zu sich nach Hause nehmen.
Aber trotzdem – wie schön wäre das doch … mit IHR. Sofort hatte er bei ihrem leisen Summen die Stellen aus dem Violinkonzert wiedererkannt … jeden Klang und jede einzelne Tonsilbe … . Knut glaubte zu träumen. Fast so, als könnte sie seine Gedanken erraten, hatte sie vorgeschlagen, das Stück bei ihr zu Hause anzuhören. Seit der Trennung von ihrem Mann vor ein paar Jahren sei ihr Zuhause praktisch für alle offen – „wär‘ wirklich schön, wenn du kommst.“
Knut war in diesem Moment einfach sprachlos … lächelte sie lediglich an. Er fühlte die Sonne in sich aufgehen – er war total überwältigt. Diese Situation übertraf seine kühnsten Erwartungen – kam ihm wie ein Wunder vor. Spontan schoss ihm dazu die Redewendung „Ein Herz und eine Seele“ durch den Kopf
Unmöglich, was da gerade passierte – was war bloß los mit ihm? Er war doch verheiratet und eigentlich liebte er doch seine Frau! Knut war sich bewusst, dass er aufpassen musste, dass er sich nicht in Illusionen verrannte – dass er sich nicht selbst etwas vorgaukelte, was er nie und nimmer zulassen konnte … und doch auch nicht wollte. Hm, können vielleicht schon … . Immer öfter hatte er in den letzten Jahren gespürt, dass seine Beziehung zu Helga aus dem Gleichgewicht geraten war – so, als müsse ihr gemeinsamer „Flügel“ immer wieder nachgestimmt werden, um ihrer Harmonie neues Leben einzuhauchen. Doch keiner von ihnen beiden machte sich die Mühe … tat den ersten Schritt. Ja, vielleicht war es tatsächlich zu spät dafür, vielleicht war ihre sexuelle Begierde tatsächlich das Einzige, was sie aneinanderfesselte, sie noch miteinander verband. … Knut machte sich bewusst, wie sehr er innerlich zerrissen war – denn … ja, seine Frau war immer noch tief in seinem Herzen. Trotz allem.
Er spürte es mit all seinen Sinnen – Nancy übte eine unwiderstehliche Faszination auf ihn aus … zog ihn vollkommen in ihren Bann. Mann, war das schön! Neben ihr fühlte er sich für einige Augenblicke wieder frei und unbeschwert, konnte sich alles vorstellen; auch, dass sich sein Leben vollkommen veränderte … besser: Das Leben ihn wieder zurückhatte!
„Was hat deine Frau gemeint? Spießig? Ich habe bei mir zu Hause auch so einen.“ Nancys glockenhelles Lachen riss Knut aus seinen Gedanken. „Wofür eine solche Nadel gut sein kann, das habe ich vor kurzem auf einem Tripp durch Indien gesehen. Da stechen sich Fakire eine zirka 30 Zentimeter lange Nadel durch die Zunge – ohne Blut und ohne Schmerzen. Die Zunge bleibe dabei offenbar völlig unversehrt, wie man mir versicherte. Apropos – das würde doch bestimmt auch mit deinem Zettelspieß funktionieren. … Solch ein Ding passt, denke ich, überall durch – und hinterlässt vor allen Dingen kaum Spuren …“.
Der komplizenhafte Blick, den Nancy ihm dabei zuwarf, irritierte Knut nun doch etwas. Dennoch fragte er nicht nach, was sie damit hatte sagen wollen.
„Das Leben bietet einem immer wieder eine neue Chance, Knut … mein Lieber. Jetzt oder nie – ganz oder gar nicht … okay?“ Nancy lehnte ihren Lockenkopf an seine Schulter, drückte ihn fest an sich. Ihre schlanken Finger glitten unter sein T-Shirt. Knut spürte ihre Wärme – überall! Seine Gedanken fuhren Karussell.
„Kommst du heute Abend zu mir? Mendelssohn Bartholdy hören? … Ja?“
Ganz im Rausch der Sinne gefangen, spürte Knut seinen Pulsschlag bis in die Haarspitzen. Er konnte nicht anders … musste – wollte – nachgeben. Nur ein einziges Mal … eine einzige Nacht – vielleicht. Morgen würde man weitersehen.
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„Du, ich treffe mich heute Abend mit einem Freund, Helga.“
„Du und Freunde? Wo hast Du denn einen solchen Idioten aufgegabelt?!“. Helgas Stimme nahm einen kreischenden Ton an. „Oder hat der vielleicht ‘ne Riesenoberweite …“ – Helga machte eine weitausholende Bewegung vor ihrer Brust – „… und wackelt mit dem Po? Vielleicht so?“. Sie machte dazu eine derart obszöne Geste, dass Knut zum ersten Mal in ihrer Ehe dabei war, die Beherrschung zu verlieren. Und – er spürte so etwas wie Hass. Nackten Hass. Was hielt ihn hier noch, fragte er sich und schlug die Tür hinter sich zu.
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Mendelssohn Bartholdy erkannte er schon von weitem. Nancy hatte die Fenster weit offenstehen. Je näher Knut Nancy‘s Haus kam, desto stärker wurde sein Entschluss, einen radikalen Schnitt zu machen.
„Nancy?“
„Knut!“. Ein jubelnder Frauenkörper stürzte sich in seine geöffneten Arme. Knut schloss vor lauter Glückseligkeit die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er ihn auf der Küchentheke stehen … den Zettelspieß.
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Fernsehmeldung am darauffolgenden Tag: „Heute Morgen wurde im Osterbrocker Stadtteil Irrlichthausen eine Frau tot aufgefunden. Wahrscheinliche Todesursache war eine 30 Zentimeter langen Nadel, die in ihren Kopf eingedrungen war.“ Das Tatwerkzeug wurde ebenfalls gezeigt.
„Das ist doch … !“. Sie bekam den Mund nicht mehr zu. Es klingelte … wer könnte das sein?
Knut stand da … mit Tränen in den Augen … wortlos drückte er Helga eine weiße Lilie in die Hand.