Du darfst …

Shortstory von Guido Sawatzki

Fünf Minuten vor Mitternacht … wieder mal Zeit zum Sterben – oder etwa nicht?

Ein hysterischer Lachanfall schüttelte Josef durch und durch … doch genauso abrupt, wie er gekommen war, brach er wieder ab.  Nicht einmal tief durchatmen half da etwas. Dabei war es ein probates Mittel, um die innere Anspannung, die er schon seit Tagen vergebens unter Kontrolle zu halten suchte, loszuwerden. Er fühlte sich regelrecht wie unter einer Betondecke begraben – ohne jegliche Chance, da wieder herauszukommen.

Doch noch etwas anderes hatte ihn aus dem Schlaf aufgeschreckt. Nur, was war das? Josef sah sich um. Eigentlich gab es doch keinen Grund, sich zu fürchten. Hier, daheim, müsste er sich doch sicher fühlen. Sah er jetzt etwa schon Gespenster?

Josef war sich im Klaren darüber, mit seinen Gedanken wieder mal total abzudriften. Er ließ das Licht der Nachttischlampe brennen. In der Hoffnung, bald wieder einzuschlafen, ließ er seinen Kopf auf den Ellenbogen sinken – seine Lieblingsstellung – und überließ sich vollkommen seinen Gedanken.

Aber irgendetwas war da gerade gewesen … ein Geräusch. Oder war er wieder bloß Opfer seiner Albträume?

Vermutlich rührte es daher, dass er eine wichtige Entscheidung für sich zu treffen hatte: Sollte er den neuen Auftrag annehmen – oder nicht? Die Alternative wäre, ihn jemand anderem zu überlassen. Einem, der keine Skrupel kannte … oder einer. Ja, denn eine Frau konnte diesen Job natürlich auch machen – vielleicht sogar noch besser.

Josef war sich sicher, wenn ER die Last der Verantwortung zu tragen hätte, dann würde er bestimmt nicht jemanden wie sich mit einer solchen Angelegenheit betrauen. Er würde ihn für befangen halten – ihn zumindest für befangen erklären. Denn eigentlich wusste Josef genau, was es mit diesem Umschlag, der dort noch immer auf dem Boden herumlag, als sei er ihm unabsichtlich aus der Hand gerutscht, auf sich hatte. Schließlich hatte er solche Kuverts schon viele dutzende Male vor Augen gehabt … und er hatte den jeweiligen Auftrag auch jedes Mal prompt und sauber erledigt. Wie es sich gehörte! Weshalb er jetzt jedoch zögerte, nach dem Umschlag zu greifen, nach einer offenen Ritze zu suchen, den Finger hineinzustecken und ihn ratzfatz aufzureißen?

Was, um Himmelswillen, hielt ihn davon ab?! Etwa weil er erschöpft war von alledem … vielleicht weil ihm Gedanken wie „… es reicht – ich sollte besser aufhören“ durch den Kopf schossen? Oder lag es an der Farbe des Kuverts, die dieses Mal so ganz anders war? Sonst waren die Umschläge immer sehr unauffällig gewesen – also in einem der üblichen Weißtöne … gelegentlich auch in einem schicken chamois, je nach Adressaten. Dieser hier war aber schwarz … fast … dunkel jedenfalls. Ungewöhnlich. Kaum, dass er seinen Namen darauf entziffern konnte.

Josef tastete nach der Lesebrille. Wo war sie nur? Hatte sie wohl wieder mal so gut versteckt, dass nicht einmal mehr er selbst sie fand. Es war ihm peinlich, in der Öffentlichkeit damit gesehen zu werden … und schon gar nicht von seinem aktuellen Auftraggeber. Wie würde das denn auch aussehen … er, der Profi … mit einem Brillengestell auf der Nase? Unmöglich jedenfalls – und garantiert würde der nächste Auftrag dann nicht an ihn gehen. Aber Ruhestand konnte er sich nicht leisten … noch nicht. Er war auf die Aufträge angewiesen … brauchte das Geld … immer noch. Jetzt, da er schon die siebzig überschritten hatte, mehr denn je. Auch, um vor allem vor seinem Aufraggeber sein wahres Alter zu kaschieren, kamen immense Kosten für Haut-, Haar- und Fußpflege hinzu. Überdies wollte er damit nicht zu jemand X-Beliebigem gehen – mit seinen auffälligen Tätowierungen; womit ihn Hinz und Kunz identifizieren könnte … im schlimmsten Fall womöglich laut rufen würde, „der da, der war’s. Ich erkenne ihn wieder – daran!“. Und dann hätte er die Bescherung. Wie hatte er auch nur so dumm sein und in einer schwachen Stunde einer Freundin nachgeben können. Sich wie ein Jungspund tätowieren lassen; oben am Hals und, da unten, im Schritt. „Du weißt schon wo … ich werde davon sowas von geil“, hatte sie ihm während eines ihrer Sexspiele ins Ohr geflüstert. Und da er sich diese Steigerung des Vergnügens mit ihr nicht hatte entgehen lassen wollen – nie und nimmer (!) -, da hatte er eben eingewilligt. Und das hatte ihn dann auch noch eine ordentliche Stange Geld gekostet.

Schwer gefallen war es ihm zu diesem Zeitpunkt nicht, hatte er doch kurz vorher sein Honorar erhalten. 30.000 … wie üblich. Also nach der Decke strecken musste er sich damals nicht. Noch lange nicht. Außerdem war er immer noch gut im Geschäft. Kein Wunder, bei seinem Ruf. Seine Auftraggeber wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Hundertfünfzigprozentig. Trotzdem … nirgendwo stand geschrieben, dass dieser fantastische Super-Flow ewig andauerte. Und Neider gab es gerade in seiner Branche genug.

Allerdings – beim letzten Mal meinte er bei seinem Auftraggeber ein merkwürdiges Zögern in der Stimme gehört zu haben. War es Misstrauen? Er konnte es nicht so recht deuten. Sofort verwarf er diesen Gedanken wieder – war sicher alles nur Einbildung … bestimmt! Ganz bestimmt sogar. Was wollte er denn? Er hatte doch überhaupt keinen Grund, sich verrückt zu machen; bisher lief doch alles wie geschmiert.

Nein – an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Josef setzte sich auf die Bettkante. Ja, sein Alltag hatte es schon in sich.

Ihm fiel da spontan sein letzter Auftrag ein … beziehungsweise die verrückten Tage danach, als er gemeinsam mit seiner Tattoo-Freundin so richtig einen drauf machte. „Du – ich hab‘ so viel Kohle, dass ich mir gleichsam den Hintern damit abwischen könnte!“. Diese Vorstellung erheiterte ihn derart, dass er mal wieder hysterisch zu lachen anfing. Seine Gespielin fand das offensichtlich gar nicht so toll. Sein Lachanfalls erschreckte sie fast zu Tode. „Alles okay?“, hatte sie mit weit aufgerissenen Augen gestammelt. Er hatte nur wortlos hinter sich gegriffen und ihr einen Fünfhunderter in den Mund gesteckt.

Josef musste gähnen. Vielleicht sollte er sich doch nochmal auf die andere Seite drehen … und sich seinen Träumen überlassen. Sein Blick fiel auf die Bücher auf seinem Nachttisch, auf denen sich bereits eine Staubschicht abzeichnete. Was waren das nochmal für welche?

Nein – studiert hatte er nicht; dafür bildete er sich auf seinen gesunden Menschenverstand umso mehr ein. Die richtige Entscheidung im richtigen Moment zu treffen, das allein war für ihn überlebenswichtig. Auch hielt er sich zugute, dass keiner der Kunden, zu denen sein Auftraggeber ihn schickte, Grund zur Klage hatte – wenn, rein theoretisch, dieser hernach dazu noch Gelegenheit gehabt hätte; denn Fairness war für Josef in solchen Fällen das Gebot der Stunde. Seinen Klienten war schnell klar, dass sie chancenlos waren – Gegenwehr nichts nutzte. Dennoch behandelte er sie mit Respekt – vor allem, wenn sie ohne aufzumucken ihr Schicksal annahmen. Doch, er nahm die Verantwortung für seine Mandanten ernst – und er hatte das Gefühl, dass sie ihm dankbar hierfür waren. Ihm selbst reichte die Gewissheit, das letzte Wort zu haben.

Nein, so wurde das nichts; er musste endlich versuchen, zu schlafen. Josef ließ sich in sein Kissen zurückfallen – und glitt binnen Sekunden auf die andere Seite des Seins.

Josef träumt … (1)

Josef sieht sich in einem Hotelzimmer stehen. Nackt. Vor ihm ein riesiger Spiegel. Sein Blick wandert langsam von oben nach unten … missbilligend stellt er fest, dass seine Haut an einigen Stellen schon Falten schlägt. Ruckartig, fast schon angewidert, wendet er sich ab.

Josef verabscheut Hotels – ganz grundsätzlich. Dabei sind die doch schon seit vielen Jahren sein zweites Zuhause … Zuhause? Aber wo ist denn überhaupt sein so genanntes Zuhause? Die Mietskaserne etwa, in die er sich immer wieder zurückschleicht, dieser unpersönliche, gesichtslose Plattenbau von anno dazumal?

Er erinnert sich an etwas, was er einmal vor langer Zeit in einem Akt purer Verzweiflung auf ein Stück Papier geschrieben hat: „Ein Strom von Liebe mich durchs Leben trug – ein Meer von Tränen mich begrub.“ Das war damals, nachdem SIE nicht mehr da war. Vor mehr als zehn Jahren also. Seitdem sind da immer wieder diese Hotelzimmer … so, wie dieses. Zimmer, die einem eigentlich nicht wehtun – nein, ganz bestimmt nicht. Sie sind in ihrer Art schlicht und irgendwie sogar zuvorkommend, versprechen dem Gast ehrlicherweise nichts Großartiges, keine überwältigenden Erlebnisse … . Doch sie sind LEER, von einer geradezu ohrenbetäubenden Leere und erschreckenden Unbekümmertheit. „Ist da jemand?!“ würde Josef am liebsten gleich nach dem Eintreten in einen solchen Käfig aus glatten, nichtssagenden Tapeten rufen – wenn er sich nicht in derselben Sekunde lächerlich vorkommen würde. Diese von vornherein kalt wirkenden Zimmer könnten auf dreißig Grad eingeheizt sein – ihn würde dennoch frieren.

Wie oft hat er in solchen Unterkünften nicht schon diese, für ihn apokalyptische Situation des Alleinseins erlebt, immer wieder dieselbe, mit dem einen, immer gleichen Gefühl … . ALLEIN! Irgendwann müsste es doch soweit sein – ein Ende haben! Allein … immer allein – für den Rest seines Lebens! Mit beiden Händen schlägt Josef sich heftig gegen den Kopf, schüttelt sich wie wild … hält sich die Ohren zu. Würde ihn jemand dabei beobachten, müsste der doch von ihm denken, er hätte nicht alle Tassen im Schrank.

***

Josef schlug verwirrt die Augen auf – „nur ein Traum – Gott sei Dank!“ Die heftigen Zuckungen seines Körpers hatten Josef aus seinem Dämmerschlaf aufschrecken lassen. Er tastete nach seinem Smartphone … scrollte sich in seinem Musikverzeichnis bis zu seinen Lieblingstiteln vor. Dann drehte er sich um … tauchte ein in die Klänge seiner Musik – immer dieselben traurigen Songs. Drückte alle paar Minuten die Repeat-Taste, konnte nicht genug bekommen von diesen Melodien, die ihn hinabzogen, wie in einen Sog, ihn in seine tiefsten Abgründe blicken ließen … immer und immer wieder.

Irgendwann in dieser Nacht brachte er es doch noch fertig, die Stopp-Taste zu drücken – bevor ihm die Augen wieder zufielen.

Josef träumt … (2)

Das Gesicht einer Frau mogelt sich in seinen Schlaf. Nach seinem letzten Auftrag – er hat ihn selbstverständlich wie immer gewissenhaft erledigt – ist er in eine Pizzeria geflüchtet … auch um der Trostlosigkeit seines Apartments und seiner inneren Leere und Einsamkeit zu entrinnen. Sie sitzt direkt am Nachbartisch. Die würde ihm schon gefallen, oh ja … wäre durchaus sein Typ. Athletisch, schmales Gesicht, kluge, hellblaue Augen, etwas strenge Frisur. Doch – irgendwie flott. Nun, er würde sie jedenfalls nicht von der Bettkante schubsen.

Sie zieht ihr Smartphone heraus … telefoniert. Gelegentlich hat er beinahe den Eindruck, dass sie über ihn spricht … ja, über ihn, den Fremden. Vielleicht auch deshalb, weil er so oft zu ihr hinüberstarrt. Das macht ihr möglicherweise Angst. Wie ein Falke flattern seine Gedanken zu ihr hinüber, malt er sich das Zusammensein mit ihr aus – bis … ja, bis etwa zehn Minuten, nachdem er einen zweiten Espresso bestellt hat, ein Bulle von einem Mann – Typ Bodybuilder – sich zu der Frau setzt. Merkwürdig findet es Josef nur, dass die beiden, während sie sich angeregt unterhalten, immer wieder zu ihm herüberstarren.

Josef lässt seiner Enttäuschung freien Lauf. So rasch er kann, kippt er – ganz entgegen seiner sonstigen Angewohnheit – den heißen, normalerweise herrlich schmeckenden Espresso hinunter. Doch jetzt würde er ihn am liebsten wieder ausspucken. „Zahlen … bitte!“, ruft er dem jungen, unerfahrenen Kerl zu, der hier den Kellner mimt und, den Bemerkungen seines Chefs nach zu schließen, heute offensichtlich seinen ersten Arbeitstag hat. Fast fluchtartig verlässt Josef die Stätte seiner Niederlage.

***

Josef schlug die Augen auf. War das eben nur Traum oder wahr?! Klar hatte er das erlebt … so oder zumindest so ähnlich … er erinnerte sich. Es war ja gerade mal ein paar Stunden her.

Derartige Erlebnisse wiederholten sich, häuften sich in nahezu erschreckender Weise. Sie beschäftigten ihn derart, dass es ihm manchmal schwerfiel, Realität und Traum auseinanderzuhalten. Diese ganze Situation … demütigend … einfach demütigend. Josefs Nerven lagen blank. Ja, ja, ja! Er hatte wieder mal versagt, war nicht fähig gewesen, einfach zu der Frau rüberzugehen, zu versuchen, mit ihr in einen lockeren Kontakt zu kommen … . Doch er schaffte es nicht; bekam es einfach nicht hin. Er versuchte, es locker zu nehmen, sich seine Enttäuschung nicht einzugestehen … glaubte selbst daran, eine Zeitlang. … Bis zum nächsten „Date“.

Wenn es ganz schlimm kam, konnte er sogar in eine regelrechte Depression versinken und voller Verzweiflung nach seinem Spezialkoffer greifen und eines jener „Werkzeuge“ in die Hand nehmen, welches er sonst für seine „Arbeit“ benutzte – bereit, damit etwas anzustellen … irgendetwas. Kaum hatte er jedoch den schwarzen Stahl berührt, schreckte er sofort wieder zurück. Nein – er durfte keine Dummheiten machen … schließlich war er Profi.

Er tröstete sich dann mit der Vorstellung, dass er ganz sicher früher oder später einer Frau begegnen würde – einer solchen, die ihn verstand und die sein gelegentlich etwas schrulliges Wesen akzeptierte … ihn einfach so nahm, wie er war.

Irgendetwas in seinem letzten Traum beunruhigte ihn allerdings. Er hatte das Gefühl, dass er dieser Frau in der Pizzeria nicht zum letzten Mal begegnet sein würde.

***

Sein Kopf fuhr Karussell. Josef war verzweifelt. Seine Gedanken wanderten immer wieder zu dem ominösen Umschlag. Den Auftrag zurückgeben? Das Kuvert einfach nicht öffnen? Unmöglich! Das wäre ja so, als ob man einer Wildkatze zumuten wolle, sich anstatt von Mäusen künftig von Trockenfutter zu ernähren … . Einfach widernatürlich! Würde auch überhaupt nicht zu ihm passen … zu ihm und seiner inneren Einstellung.

Die hatte ihn vor allem immer dann zur Ordnung gerufen, wenn Gefahr bestand, dass er sich zu sehr ablenken ließ – beispielsweise von Frauen. Je älter er wurde, desto mehr wurden sie für ihn zum Problem. Dass er sich mit kurzfristigen Liebschaften zufriedengeben musste, lag sicher auch an seinem unsteten Lebenswandel. Welche Frau mit Charakter würde das denn auch auf Dauer mitmachen? Und Teenies konnte er schon mal gar keine gebrauchen.

Seit kurzem jedoch verfolgte ihn immer wieder derselbe Traum – das war, seitdem er dieses merkwürdige Zögern in der Stimme seines Auftraggebers bemerkt hatte: Eine der Frauen, der er den Laufpass gegeben hatte, hatte einen Auftragskiller angeheuert, um ihn um die Ecke zu bringen. Wenn er tagsüber daran dachte, musste er unwillkürlich lachen. Auftragskiller … ha! Und so etwas ausgerechnet ihm! Grund genug, Josef böse zu sein, hätten allerdings einige Frauen. Denn sobald er den Eindruck hatte, dass sie ihm zu nah auf die Pelle rückten, gab er ihnen wieder den Laufpass. Gefühle? Nicht mit ihm! Nicht mehr.

Doch ließ er sich von seinen verrückten Träumen nicht aus der Ruhe bringen – im Gegenteil: Sie brachten ihn eher wieder zur Besinnung. Wichtig war allein, dass er seinen Auftrag zuverlässig erledigte – betont unbeeindruckt, präzise. Wie gewohnt.

Nach solchen Terminen kehrte er, als habe er alle Zeit der Welt, gemächlich ins Hotel zurück, frühstückte am nächsten Morgen in aller Ruhe, packte seine Siebensachen und bezahlte die Zimmerrechnung. Das Trinkgeld, das er beim Auschecken regelmäßig gab, bewegte sich stets im Mittelmaß. Nur nicht auffallen, lautete seine Devise. Unauffällig auch seine Kleidung. Ja nichts Übertriebenes anziehen – keiner sollte sich deswegen an ihn erinnern können.

***

Auch diesmal sollte sich seine Rückkehr so normal wie möglich abspielen … hoffte er.

„Guten Morgen, Herr Voogt! Schon von der Geschäftsreise zurück?“ Dass diese Frau, der er gelegentlich im Aufzug begegnete – er wohnte im 15. Stockwerk des Plattenbaus – immer so übertrieben höflich … und gleichzeitig so grässlich neugierig sein musste! Diesmal schien es jedoch anders zu laufen. Denn in demselben Moment, als sich die Türen des Aufzugs zu seiner Etage hin öffneten, geschah etwas Sonderbares. … Eigentlich wollte er es nicht – wollte sich in keine Konversation mit dieser Frau einlassen. Doch etwas in seinem Innern ließ Josef zögern. Er sah sie direkt an – zum ersten Mal eigentlich.

„Ja“, entgegnete er spontan. „Und Lust auf einen Frühstücks-Kaffee hätte ich auch“, rutschte es aus ihm heraus. Gott – was war in ihn gefahren? Hatte er etwa ‘ne Midlife-Crisis? Falls ja, dann kam die relativ spät.

Sie schien genauso perplex von seiner Antwort zu sein wie er selbst. Schnell, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, zog er seinen Fuß zurück, den er in der Aufzugsöffnung hatte stehen lassen, damit sich die Tür nicht sofort wieder schloss. Doch genauso spontan hatte sie ihren Fuß rasch in die Öffnung gestellt. „Sie haben Glück“, erwiderte sie lächelnd. „Ich habe gerade einen frisch aufgebrüht.“ Das wiederum kam so unerwartet für ihn, so überraschend, dass er ihr Lächeln unwillkürlich erwiderte.

„17. Stock – und klingeln Sie bei Maier.“

Die Aufzugstür schloss sich mit einem leisen Brummen. Wie vom Donner gerührt stand Josef da. Da war etwas passiert … tatsächlich passiert. Seine Mundwinkel gingen nach oben, sein Gesicht verzog sich zu einem Strahlen. … Josef lachte – wie befreit. Ja, wirklich, er lachte und schüttelte den Kopf dabei. Ein Date, er hatte tatsächlich ein Date. … Verdammt, sie hatten keine Uhrzeit ausgemacht. Doch so, wie ihr kurzes Gespräch verlaufen war, sollte er wohl gleich kommen … auf einen Kaffee.

Deshalb würde sie jetzt wahrscheinlich auch nicht erwarten, dass er sich großartig umzog.  Wozu denn auch, schließlich dauerte solch ein Kaffeeplausch keine Stunden. Josef lauschte. Ihre Stimme war noch immer in seinem Ohr. Ein angenehmer Tonfall … nicht aufdringlich, eher sachlich – eher wie selbstverständlich -, keinesfalls fremd. Ja – er freute sich darauf … freute sich auf sie. Musste jedenfalls nicht in sein Loch. Nicht gleich. Hatte Bedenkzeit.

Wenig später stand er vor ihrer Wohnungstür. „Maier“ – eigentlich ein Allerweltsname. Ein Name, mit dem auch er sich seinen Kunden an der Haussprechanlage vorstellen konnte … jedenfalls keiner, der Misstrauen erregte. Doch war Josef in diesem Moment so sehr von seinen Gefühlen gefangen, dass weder Denken noch Zweifel bei ihm irgendeine Chance hatten. Das Herz klopfte ihm tatsächlich bis zum Hals.

Sie öffnete. Von ihrem Anblick fühlte Josef sich total überrumpelt; bekam kaum den Mund wieder zu; kam sich in seiner Alltagskleidung fast wie ein Penner vor. Zwar hatte er sich vorhin noch die Zeit genommen, zu duschen – war dann aber wieder in seine Alltagsklamotten gestiegen. Im Gegensatz zu ihm hatte sie sich offensichtlich auf ihn vorbereitet. Der Ausschnitt in ihrem pfirsichfarbenen, luftigen Kimono war so tief, dass er das Gefühl hatte, wenn er ihr näherträte, könnte er zwischen ihren zierlichen Brüsten hindurch bis zu ihren Zehenspitzen hinabsehen. Sie wirkte auch sonst sehr zart auf ihn. Seltsam – so hatte er sie keineswegs in Erinnerung. Er entschuldigte sich damit, dass sie ja bisher immer nur flüchtige Blicke ausgetauscht hatten … auf dem Flur oder im Aufzug.

„Komm herein!“. Die Anrede brachte ihn aus dem Konzept. … Dass sie ihn duzte – jetzt schon? Sie kannten sich doch eigentlich gar nicht. Sein Blick fiel auf das Fernglas, das an einem Haken neben dem Fenster mit Blick auf den Hof hing. Als ob sie seine Gedanken lesen könnte, folgte sie seinem Blick … . Sie lächelte. „Ja, ich habe dich beobachtet … des Öfteren. Jedes Mal, wenn du von deiner nächtlichen Arbeit kamst. So, wie vorhin. Zumindest war dein Gesicht immer danach … so, wie eben jemand dreinschaut, wenn er nach getaner Arbeit nach Hause kommt. Verstehst du?“

Josef war verwirrt. Doch was blieb ihm anderes übrig. Er musste dieses Spiel mitspielen. Aber – was wollte sie von ihm? Hatte sie ihn wirklich schon lange beobachtet? Und – ahnte sie, womit er sein Geld verdiente? Er griff in seine Manteltaschen … irgendetwas müsste er doch dabeihaben, um sich im Notfall verteidigen zu können … irgendwas. Nein, da war nichts. Den „Notfall“ hatte er nicht eingeplant. Josef fühlte sich entsetzlich schutzlos; hoffte, sie würde nichts bemerken. „Wonach suchst du? Du brauchst jetzt nichts – außer dem, was wir uns gegenseitig geben können … und wollen. … Willst du?“. Sie kam näher; bis sie unmittelbar vor ihm stand.

Josef fand allmählich wieder zu seiner inneren Gelassenheit zurück. Er erwiderte ihren festen Blick, hatte das Gefühl, dass sie beide in diesem Moment dieselben Gedanken verbanden. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Überhaupt war er völlig ruhig geworden; ergab sich seinem Schicksal. Josef griff nach ihrer Hand … führte sie an seinen Mund. Seine Lippen wanderten forschend ihren Arm hinauf, erkundeten die Wärme ihres Körpers. Keiner sprach ein Wort. „Schließ die Augen“, forderte sie ihn irgendwann auf; es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Doch er war bereit, alles mit sich geschehen zu lassen. Sie führte ihn … er vermutete, in ein anderes Zimmer; denn hinter ihnen fiel leise eine Tür ins Schloss.

Er blinzelte ein wenig unter seinen Augenlidern hindurch. Doch er sah nichts. Nur Dunkel um ihn herum. Sie war stehengeblieben. „Du darfst deine Augen wieder öffnen.“ Doch noch immer konnte er nichts sehen. Nur auf dem Bett unmittelbar vor ihm, das in dem Halbdunkel riesengroß auf ihn wirkte, sah er etwas blinken. „Soll ich dich ausziehen – oder schaffst du das alleine?“, meinte sie fast etwas süffisant, als sie seine Unentschlossenheit bemerkte.

„Leg dich hin“, befahl sie. Er spürte, wie sie sich über ihn beugte. Er ließ es zu, dass sie ihm so etwas wie Handfesseln anlegte. Er konnte nicht anders … und wenn es das letzte Mal gewesen sein sollte. Sein Verlangen stieg von Minute zu Minute. Sie legte sich auf ihn.

Was in den folgenden Stunden geschah, daran erinnerte sich Josef später nur noch schemenhaft … außer dass sie sich gegenseitig fast verschlangen und nebenher Sushi und andere japanische Köstlichkeiten schlemmten und sie ihm in den Pausen Unmengen einer scharfen Flüssigkeit einflößte. Sake, vermutete er. Aber so, wie er sich fühlte und sich total auf diese ungewohnte Situation einlassen konnte – mit all seinen Sinnen -, hätte er das alles gar nicht gebraucht.

***

Es klingelte. Josef schaute verblüfft auf seine Armbanduhr: Fünf Minuten vor Mitternacht. Nanu – schon wieder … oder immer noch? Was für ein Spiel erlaubte sich das Leben da mit ihm!? War er vorhin nicht mit IHR – mit dieser Frau – zusammen gewesen? Ihm fiel ein, dass er sie gar nicht nach ihrem Vornamen gefragt hatte. Er wälzte sich von seiner Couch … fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Wie war er überhaupt hierhergekommen – er musste doch voll wie eine Haubitze gewesen sein. Sein Rausch schien aber wie weggeblasen.

Er hielt einen Moment lang inne, schaute an sich herunter – er war ja noch halb angezogen! Josef war verwirrt, erhob sich rasch. Keine gute Idee. „Puuh …“. Auf dem Weg zur Wohnungstür taumelte er leicht – hoppla, waren das etwa noch die Nachwirkungen von dem japanischen Reisschnaps? Es fehlte nicht viel und er wäre auf den schwarzen Umschlag getreten, der noch immer dort auf dem Boden lag … der, den er bisher nicht hatte öffnen wollen.

***

Jemand hämmerte jetzt mit den Fäusten gegen die Tür. „Ja?“ rief er laut.

„Mach auf … bitte!“ Er nahm sich nicht einmal mehr die Zeit, durch den Türspion zu schauen. Die Stimme gehörte doch der Frau von vorgestern Abend in der Pizzeria … die hübsche mit den blauen Augen!

Kaum hatte er jedoch die Tür einen Spalt weit geöffnet – die Kette des Schlosses war noch eingehängt -, da wurde diese mit einer solchen Wucht eingetreten, dass es ihn wie einen Gummiball an die gegenüberliegende Wand warf. Der Begleiter der Frau, das Muskelpaket aus der Pizzeria, beugte sich zu ihm hinunter, packte ihn mit nur einer Hand unterm Kinn und hob ihn hoch.

„Du hast Deinen Umschlag gar nicht geöffnet“, meinte die hübsche Blonde vorwurfsvoll zu Josef. „So darf man doch nicht mit der Post seines Auftraggebers umgehen … das gehört sich nicht. Darf ich das für dich tun?“, bot sie spöttisch an. Josef wollte antworten, doch ließ der schraubstockartige Griff des Bullen um seinen Hals nur ein heiseres Krächzen zu. „Ich lese ihn dir vor – und du wirst sehen, dass es besser für dich gewesen wäre, wenn du ihn geöffnet hättest … solange noch Zeit dafür war“, fuhr sie langsam und mit leiser Stimme fort.

WIR BRAUCHEN DICH NICHT MEHR!“. Sie lächelte. „Mehr steht da nicht drin. Enttäuscht?“. Ihre Stimme hörte Josef nur wie aus weiter Ferne. In seinen Ohren rauschte es … .

„Hm … bedauerlich. Du konntest wohl einfach nicht loslassen – weder von deinem Job … noch von den Frauen. Warst wohl sehr von dir überzeugt … dachtest, du seist unersetzbar … was? Die Nacht … deine LETZTE Nacht war übrigens ein Abschiedsgeschenk vom Boss.“ Sie lachte. „Ja, wir hatten unseren Superkiller Josef die ganze Zeit unter Kontrolle – hättest du nicht gedacht, was?“

Sie drehte sich zur Seite, ließ sich von ihrem Begleiter etwas geben. „Schau, was ich hier habe – dein ach so geliebtes Werkzeug.“ Sie drückte es ihm vorsichtig in die Hand. „Du darfst sogar selbst abdrücken – ein letztes Mal.“

Der Griff der Pistole schmiegte sich Josef vertraut in seine Hand. Das gab ihm noch einmal für einen kurzen Moment das Gefühl von Macht, sodass er einfach nicht glauben konnte, was da gerade passierte. Gleichzeitig fühlte er instinktiv, dass er im Begriff war, in einen Trichter hineinzurutschen, aus dem es kein Entrinnen gab.

Der Bulle verdrehte ihm das Handgelenk so weit, dass Josef jetzt direkt in die Mündung der Waffe blickte. Dabei ging der Typ mit einer derartigen Brutalität vor, dass Josef eigentlich vor Schmerzen hätte schreien müssen – doch so benommen, wie er sich fühlte, war es ihm sonderbarerweise egal.

Du darfst …“, war das letzte, was er von der schönen Blonden hörte.