In Ketten

Shortstory von Guido Sawatzki

Nie hätte er gedacht, dass Ketten so unterschiedlich klingen können. An das charakteristische, scheppernde Geräusch von Plastikketten hatte sich Oliver gewöhnt … spätestens als er sich eine Regenkette im Baumarkt kaufte und sie hernach am Abfluss seines Balkons befestigte, damit das Wasser nicht unkontrolliert hinausschoss oder gar von Böen an die Hauswand gedrückt wurde. In diesem Zustand hatte eine solche Kette für ihn geradezu etwas Lebendiges an sich. Wenn es für die Kette mal nichts zu tun gab, hing sie wie ein Reptil im Erstarrungsmodus schlapp herunter oder aber sie durchbrach die Stille mit einem leichten Trommeln, wenn die hohlen Glieder aus Kunststoff, vom Sturm durcheinandergewirbelt, aneinanderschlugen.

Vollkommen anders und auch völlig unterschiedlich verhielt es sich beim Klang von Metallketten. So konnte Oliver beispielsweise sehr genau unterscheiden, wer die Kette vor der Einfahrt zum Nachbargrundstück gegenüber gerade einhängte … also der Mann oder seine Frau. Doch – wirklich! Man muss sich das mal vorstellen: Hier die mehr als fünf Meter lange und entsprechend schwere Kette und dort die eher zierliche Frau, die es mit viel Mühe schaffte, sie einzuhängen. Am Ende schleifte die Kette vor allem in der Mitte noch jedes Mal auf dem Asphalt … wohingegen die Metallkette, wenn er sie spannte, beim Ziehen in eine leichte Schwingung verfiel, was einen leichten Summton erzeugte.

Hinzu kam, dass sie immer länger brauchte als er – wesentlich länger. Es schien fast so, dass ihr Mann die Kette jedes Mal stärker spannte, sodass sie immer mehr Schwierigkeiten hatte, sie aus dem stabilen Vorhängeschloss herauszufingern; was sie manchmal offensichtlich zur Weißglut brachte; insbesondere, wenn sie bei dieser Prozedur auch noch einen ihrer langen, künstlichen Fingernägel einbüßte. Dann waren ihre lautstarken Kommentare wie, „Es reicht … es reicht … ich hab‘ die Nase voll … das muss endlich ein Ende haben …!“ über die ganze Straße hinweg zu hören. Auch was sie sonst noch so von sich gab, war alles andere als ladylike.

Von Anfang an gab es dieses Theater – also, seit das Paar hier vor einem Jahr eingezogen war. Ja, durchweg alle Anwohner fanden es vorher wesentlich ruhiger … in ihrem kleinen, beschaulichen Sträßchen. Auch hatte vor deren Zuzug noch niemand Sperrketten vor seiner Grundstückseinfahrt – vor keinem der vier Einfamilienhäuser hing solch ein hässliches Ding.

Zudem empfanden viele derartige Maßnahmen als überflüssiges Gehabe. Schließlich kannte man seine Nachbarn und wusste, wo die Grundstücksgrenzen verliefen. Zäune und Absperrketten sahen die Anwohner als Zeichen dafür, dass man sich abgrenzen wollte – nichts mit den Anwohnern zu tun haben wollte. Nein, das brachte Unfrieden in die Straße. Gute Nachbarschaft sah anders aus.

Dass sie das Problem mit der zu straff gespannten Kette nicht schon längst bereinigt hatte, ließ nach Olivers Dafürhalten nur zwei Schlüsse zu: Entweder hatte sie Angst, dass ihr Mann sie als schwaches Frauchen verspotten würde – oder aber sie wollte ihre kleinen Ausflüge vor ihm geheim halten und nahm deshalb lieber dieses Übel in Kauf. Letzteres hielt Oliver für wahrscheinlicher.

Dazu passte, dass sie sich nahezu jedes Mal, wenn sie den Wagen nahm, ziemlich auftakelte. Für Olivers Geschmack jedenfalls taugten die Fummel weniger für einen Einkaufsbummel; sie schienen vielmehr dazu geeignet, männliche Fantasien anzustacheln – also eher für nächtliche Rendezvous oder etwas Ähnliches geeignet.

Weil er neugierig war, legte Oliver sich eines Tages auf die Lauer. Und er hatte Glück. Gerade hatte er sein kurzes Frühstück beendet, da hörte er sie auch schon wieder schimpfen. Diesmal hatte sie offensichtlich größere Schwierigkeiten als sonst. Oliver öffnete das Fenster und rief „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ zu ihr hinüber. Wütende Blicke in seine Richtung und ein zorniges Keifen à la „Bin selber groß genug …“ kamen als Antwort zurück.

Als Oliver Monate später darüber nachdachte, sollte ihm seine Reaktion darauf immer noch Rätsel aufgeben. Denn anstatt ihr auf diese offenkundige Unhöflichkeit hin umgehend und unmissverständlich zu antworten oder sie zumindest zu ignorieren, schlüpfte Oliver flugs in seine Schuhe und lief zu ihr hinüber, um sich vorzustellen: „Gestatten, Oliver Fuchs – ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen.“

Sie musterte ihn von oben bis unten, drückte ihm aber dann das Vorhängeschloss in die Hand, begleitet von einem patzigen „Bitteschön, Sie dürfen es gerne selbst mal probieren!“

Oliver fiel auf, dass bereits drei ihrer künstlichen Fingernägel bei dieser Aktion abgebrochen waren. Dass er jetzt deshalb wie gebannt auf ihre Finger starrte, machte sie derart wütend, dass sie ihm das Schloss wieder entreißen wollte.

„Stopp!“, rief Oliver. „Lassen Sie es mich doch wenigstens mal versuchen … okay?!“.

„Sie haben kräftige Hände“, bemerkte sie völlig zusammenhanglos und deshalb für ihn völlig überraschend. „Was machen Sie beruflich?“

„Ich gebe Seminare an der Uni.“

„Viel verdient man dabei wohl nicht“, stellte sie mit einem abwertenden Blick auf Olivers Kleinwagen etwas spöttisch fest.

„Wenn man, wie ich, alleine lebt, reicht es“, entgegnete er gelassen. „Hier … das Schloss und die Kette.“ Oliver drückte ihr beides in die Hände. Er zögerte einen Moment, konnte sich aber die Frage, die ihn schon länger beschäftigte, dann doch nicht verkneifen: „Und Sie? Was treiben Sie so … beruflich?“

Er sah ihr an, wie sie mit sich kämpfte, nach den richtigen Worten suchte, es dann aber doch für fair hielt, ihm eine, wenn auch ausweichende Antwort zu geben, die dafür umso länger ausfiel: „Wollen Sie das wirklich wissen? Hm … . Merkwürdigerweise habe ich das Gefühl, Sie fragen nicht aus bloßer Neugier – sondern weil es Sie tatsächlich interessiert. Ganz offen gesagt, das tun nur wenige … sich für mich interessieren – und das nicht nur oberflächlich. Das habe ich schon lange nicht mehr erlebt. … Darf ich Sie Oliver nennen?“

Sie warf ihm einen neckischen und zugleich abschätzenden Blick zu. Dann stieg sie in ihren Wagen. Er schickte sich schon an, zu gehen, da öffnete sie die Beifahrertür. „Kommen Sie, steigen Sie ein … Oliver.“

Oliver war verblüfft, wusste einen Moment lang nicht, wie er sich verhalten sollte. Warum eigentlich nicht, überlegte er, schließlich hatte er an diesem Tag keine Termine und auch sonst keine Verpflichtungen. Mit einem knappen „okay“ ließ er sich in das bequeme Sitzpolster fallen. Einen kurzen Moment lang verweilten seine Gedanken noch bei der Absperrkette. Die hatte sie samt Schloss kurzerhand auf den Boden fallen lassen … einfach so – und dies zum allerersten Mal, seit er sie beobachtete. Was wohl ihr Mann dazu sagen würde? Apropos Mann … ob der in Urlaub war und sie es sich deshalb erlauben konnte, einen Fremden zum Mitfahren in ihrem Wagen einzuladen? Jedenfalls hatte er seinen Nachbarn seit einigen Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Hm.

„Anschnallen!“, befahl sie in einem Ton, der einem Offizier auf dem Kasernenhof alle Ehre gemacht hätte. Oliver zog eine Augenbraue hoch, verkniff sich aber jegliche Bemerkung. Er wollte sich vor ihr natürlich keine Blöße geben – und Angst vor ihr hatte er sowieso nicht. Warum auch? Und dass sie seine Frage nach ihrer beruflichen Orientierung schlichtweg übergangen hatte – auch das kümmerte ihn in diesem Augenblick nicht weiter.

Wohin sie fuhren, darauf gab er nicht weiter acht; sah es eher als nebensächlich an. Sie würde ihn schon wieder heil nach Hause bringen. Viel wichtiger war Oliver, sich ein Bild von dieser Frau zu verschaffen, die ihm immer mysteriöser vorkam. Dass er sie unentwegt beobachtete, blieb ihr sicherlich nicht verborgen. Aber wahrscheinlich war sie es gewohnt, von Männern angestarrt zu werden. Denn … ja, sie war eine Schönheit. Auf jeden Fall. Aber unwiderstehlich? Das zumindest verneinte Oliver für sich – für den Augenblick.

„Sie fragen gar nicht, wohin ich uns fahre!“, rief sie übermütig und ließ das Glasdach zurückfahren, wodurch der Fahrtwind ihre langen, blonden Haare durcheinanderwirbelte.

„Und Sie wundern sich offenbar gar nicht, dass ich so einfach bei Ihnen eingestiegen bin?“, entgegnete Oliver.

Nachdem sie eine Weile über Land gefahren waren, lenkte sie den Wagen in einen dichtbewachsenen Seitenweg, stoppte dann kurz darauf abrupt. Oliver staunte. Vor ihnen öffnete sich der Weg zu einer Lichtung mit einem stattlichen Blockhaus in der Mitte. Sie warf ihm einen intensiven Blick zu.

„Holen Sie bitte die Sachen vom Rücksitz?“, sagte sie in einem Ton, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Sie stieg aus, ließ aber den Schlüssel stecken … wartete auf ihn. Oliver fühlte sich sonderbar. Er kam sich fast vor wie der Hotelpage, der jetzt den Wagen ordentlich parken und danach das Gepäck aufs Zimmer bringen sollte … und zwar flott. Denn ihre Stimme klang genauso schnodderig wie vorhin beim Anschnallen. Das „bitte“ war nur überflüssiges Beiwerk. Trotzdem … . Ihm war, als müsse er ihrer Stimme folgen.

Dieses unbestimmte Gefühl eines inneren Zwangs einerseits und der Hilflosigkeit andererseits verunsicherte ihn zutiefst. Was war bloß los mit ihm? Was geschah da? Er wollte doch nichts von ihr … eigentlich. Er war zwar schon länger nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen – aber das bedeutet noch längst nicht, dass er jetzt dieser hier, nur weil sie ihm möglicherweise Avancen machte, gleich die Stiefelspitzen lecken würde. Derart sexuell ausgehungert war er nun doch nicht. Natürlich war ihm bei seinen Beobachtungen und ihren zufälligen Begegnungen auf der kleinen Straße zwischen ihren Häusern nicht entgangen, wie attraktiv sie war, aber dass er deswegen verrückt nach ihr wäre – niemals! Aber diese wenigen Minuten, in denen er ihr so nahe war – quasi auf Tuchfühlung – hatten ganz offensichtlich dazu ausgereicht, eine Begierde in ihm zu entfachen, die er nur mühsam beherrschen konnte. 

Die „Sachen“ bestanden aus einer größeren, unglaublich schweren Tasche, unter deren Gewicht Oliver fast in die Knie gegangen wäre, als er sie sich über die Schulter warf. Aufgrund der klirrenden Geräusche vermutete er mehrere Flaschen darin. „Vorräte?“, fragte er. „Wollen Sie länger hierbleiben?“ Sie sah ihn an … mit einem langen, melancholischen Blick.

„Das hängt von Ihnen ab … Oliver.“

Oliver überlegte einen Moment lang, dass jetzt vielleicht der Zeitpunkt gekommen war, auch sie beim Vornamen zu nennen. Linda und Carl Vermeer las er auf dem Namensschild ihres Briefkastens, als er mal an ihrem Grundstück vorbeischlenderte und sich gefragt hatte, ob dieser uralte Familienname wohl etwas mit dem Maler des Barock zu tun hatte. „Linda“, dachte er da, „was für ein schöner Name.“

„Ja, Sie dürfen mich auch bei meinem Vornamen nennen … Oliver“, sagte sie in einem leisen, unerwartet sinnlichen Ton; gerade so, als ob sie seine Gedanken lesen konnte.

Auf dem Weg zur Blockhütte fielen ihm etwas abseits davon mehrere große hölzerne Bettgestelle ins Auge … allesamt verkohlt. Das kam ihm zwar merkwürdig vor, beunruhigte ihn aber nicht sonderlich.

Sie öffnete die Tür des Blockhauses, die unverschlossen war. „Ich komme öfter hierher …“. Sie stockte. Ihr war wohl bewusst geworden, dass sie im Begriff war, ihn in ihr Geheimnis einzuweihen, ihm einen Platz in ihrem Leben zu geben.

Von den verkohlten Überresten abgelenkt, hatte er ihren letzten Satz nur am Rande mitbekommen. Doch jetzt, als er eintrat, stockte ihm buchstäblich der Atem. Das Innere der Hütte war überwältigend; erschien ihm fast wie ein kleiner Palast im Grünen. Das Haus maß mindestens 20 Meter und beherbergte in der Mitte eine riesige Wohnküche, umgeben von mehreren Wohnräumen. Im Obergeschoss ging es offenbar weiter. Zudem schien das Blockhaus unterkellert; eine Treppe an der Seite führte nach unten.

„Nehmen Sie sich einen Drink, Oliver … und schenken Sie mir bitte dasselbe ein. Ich gehe kurz duschen. Machen Sie es sich solange bequem. Soweit ich weiß, nehmen Sie Cognac … und keinen Whisky. Stimmts?“ Als sie sein erstauntes Gesicht sah, lachte sie ihn kurz an – zum ersten Mal, überlegte Oliver … ein sympathisches Lachen. „Ich habe Sie mal am Flaschencontainer stehen sehen …“.

Gedankenverloren, aber wie selbstverständlich – so, als ob er hier zuhause wäre – goss er aus der bereitstehenden Flasche zwei Gläser ein. Das ging ihm so selbstverständlich von der Hand, als ob er nie im Leben etwas anderes getan hätte. Nach einer Weile öffnete sich eine der Türen … Dampf quoll heraus. „Oliver … Oliver!“. Oliver blieb stumm, rührte sich nicht. Ein nackter Fuß erschien … dann ihr Kopf. Sie lächelte ihn verheißungsvoll an. „Schauen Sie sich ruhig um, Oliver. … Ich habe schon alles vorbereitet.“

Es war vor allem dieser letzte Satz, der Oliver, dessen Fantasie schon wieder Purzelbäume schlug, wieder etwas klarer denken ließ. Sie hatte offenbar alles geplant … von dem angeblich klemmenden Schloss angefangen … . Was hatte sie vor und – was wollte sie von ihm?! Nun, jedenfalls gab es hier ganz offensichtlich keine Türen mit Schlössern – er war also nicht eingesperrt … war nicht ihr Gefangener. Was sollte das alles?! Sie kannte ihn doch gar nicht … und kam möglicherweise ohne Umschweife gleich zur Sache.

Oliver öffnete die nächstgelegene Tür – schließlich hatte sie ihn aufgefordert, sich umzusehen. … Außerdem war er neugierig.  Der Zweck dieses Zimmers war offensichtlich: Ein riesiges, quadratisches Bett beherrschte den Raum – ansonsten kein einziges Möbelstück. Zwei große Kerzen an dessen Stirnseite irrlichterten durch das Dunkel des Raums. Unter der Zimmerdecke erkannte Oliver ein mindestens ebenso großes metallisches Netz, einem Spinnennetz ähnlich, an dessen Enden Ketten auf das Bett herunterhingen; verrückterweise erinnerten sie ihn an die Absperrkette vor seinem Nachbarhaus. Nur dass diese hier etwas feingliedriger waren – sie dienten wohl auch einem anderen Zweck … .

„Ich ahnte, dass Sie das Zimmer neben meinem Bad als Erstes inspizieren würden, Oliver.“ Wie aus dem Nichts war sie hinter ihn getreten, lediglich eingehüllt in einen durchscheinenden Hauch von Nichts. Das verwirrte ihn derart, dass ihm spontan keine genauere Bezeichnung dafür einfiel. Die Cognacschwenker hatte sie auch gleich mitgebracht. Während Sie ihm das eine Glas reichte, schlang sie ihren freien Arm fordernd um seine Hüfte.

„Linda …“. Zu mehr kam er nicht. Sie legte ihm ihren Zeigefinger auf den Mund.

„Ich liebe Ketten, musst du wissen. Ich finde sie wahnsinnig erotisch. Mein Mann hat dafür nichts übrig. Leider. Deshalb muss ich mir auch immer andere Männer suchen … solche, die meine Leidenschaft teilen. Darf ich dich ausziehen? Du brauchst dich nicht zu genieren, Oliver. Ich habe das bisher bei allen meinen Liebhabern gemacht. … Und jeder hat es genossen – bis zum letzten Augenblick. Komm, Oliver, trinken wir … Ex!“. Linda leerte ihr Glas tatsächlich in einem Zug, löste gleichzeitig das Band, welches diesen verführerischen Hauch von Nichts noch zusammengehalten hatte.

Es war soweit. Ihre letzten Worte hingen noch in der Luft, da war Oliver endgültig klargeworden, dass ihm die Zügel entglitten waren. Aber warum nicht mal ein kleines Abenteuer mit einer sinnlichen Frau, versuchte er sich einzureden … Dein Alltag ist doch sonst so grau. Außerdem waren sie weit weg von ihrem Zuhause … und von ihrem Mann – was also sollte ihn bremsen? Zwar stürzte Oliver den Cognac nicht ganz in einem Zug hinunter, war aber in diesem Moment innerlich bereit, genauso hemmungslos zu sein wie sie … bereit für wirklich alles. Der Verstand hatte Urlaub.

Das sollte er jedoch kurz darauf bereuen.

„Damit alles nicht so lange dauert, habe ich in dein Glas ein klitzekleines bisschen Betäubungsmittel gemixt. Und auch zu Deinem Schutz, damit Du Dich nicht wehrst und Dir womöglich aus Versehen wehtust … verstehst du? Die Wirkung hält nicht lange an …  nur so lange, bis du in meinem Netz zappelst. Wenn du mitmachst, stehen uns wundervolle Stunden bevor … mein Herzblatt.“

Das bekam er nur noch bruchstückhaft mit – denn das Mittel hatte bereits zu wirken begonnen.

Als Oliver aus seiner Betäubung erwachte und die Augen aufschlug, hatte Linda ihr Werk bereits beendet. Splitterfasernackt fand er sich auf dem mit Fellen bedeckten Bett wieder – und das fühlte sich phänomenal an. Sie saß rittlings auf ihm … lächelte ihn sanft an. „Wir werden es beide nicht bereuen, da bin ich mir ganz sicher. Wir können noch weit über diese Nacht hinaus zusammen Spaß haben – wenn auch du es willst. Bitte, Oliver, lass es einfach geschehen … willst du?“ Unendlich langsam und erwartungsvoll küsste sie sich nach unten – angefangen von seinen Handgelenken, die in Handschellen steckten.

Oliver schloss irgendwann die Augen. Er fühlte das Blut im Kopf rauschen, stöhnte vor Erregung; hatte das verstörende Gefühl, er müsste schon jetzt kommen, obwohl sie doch gerade erst begonnen hatte. Seltsam, dass alle Fremdheit verflogen war, er sich sozusagen als Teil von ihr empfand, keinerlei Konventionen zwischen ihnen zu stehen schienen … alles von einer beispiellosen Leichtigkeit geprägt war. Die Handschellen störten ihn überhaupt nicht – im Gegenteil, er genoss es, Linda ausgeliefert zu sein. Oliver war, als sei er auf etwas lang Entbehrtes gestoßen – etwas, was seit Ewigkeiten in ihm geschlummert hatte.

„Komm jetzt … komm … Linda“, keuchte er.

***

Linda kniff die Augen etwas zusammen, hatte mit einer solchen Reaktion eigentlich nicht gerechnet, war das von den anderen auch überhaupt nicht gewöhnt gewesen. Im Gegenteil – die hatten meist nur herumgebrüllt. Oft hatte sie sie deshalb mit einer Peitsche zur Räson bringen müssen – einer schweren Ochsenpeitsche, die noch aus einem Urlaub in Mexiko stammte. Danach jammerten die nur noch vor sich hin. „Lass mich gehen … bitte!“

Sie machte dann immer kurzen Prozess. Jammernde Männer waren ihr ein Gräuel. Sie entsorgte sie zusammen mit den hölzernen Bettrosten hinter der Blockhütte. Dies hier war tatsächlich eine neue Erfahrung – dieser Mann da war offenbar eine ehrliche Haut … Oliver. Sie beugte sich zu ihm hinunter, streichelte sein Gesicht, ihre Brustspitzen rieben sich ganz leicht an seinen, was ihn erneut zum Stöhnen brachte.

Es wirkte seltsam ansteckend. Sie war unsicher, alles war irgendwie anders als sonst. Sie betrachtete ihn lange … streichelte ihn erneut – überall. Auch das war neu für sie … dass sie so etwas wie Zärtlichkeit erlebte.

„Ja … ich will Dich – bitte, Linda … Jetzt!“

Sie spürte es … ihr Herz pochte – das war noch nie so gewesen. Seine Worte klangen nicht nur aufrichtig, sondern das, was er sagte, meinte er offensichtlich auch so. Ganz sicher! Keine Falschheit – so, wie bei den andern. Ja … auch wie bei ihrem Mann – der inzwischen bei den anderen lag, hinter der Hütte, unter den Bettrosten.

Konnte das hier ein Neuanfang für sie werden? … Mit ihm zusammen? „Oh, Oliver … Oliver. Wenn du wüsstest. … Es ist wie beim allerersten Mal.“ Linda schaute ihm ins Gesicht. Was sie darin las, war Wärme und Zuneigung. Dinge, die sie schon lange nicht mehr von Männern erhalten hatte. Sie legte sich neben ihn, ihre Körper berührten sich …  sie umarmte ihn, küsste ihn auf die Wange.

„Du willst mich wirklich …? Dann nimm mich!“ Sie nahm ihm die Handschellen ab … ging dabei ganz sorgsam zu Werke, weil sie ihm nicht wehtun wollte. Nachdem seine erste Hand befreit war, nahm sie sie in beide Hände … küsste sie – voller Zartheit. Ihr Herz war jetzt voller Liebe – Linda fühlte sich von ihren Gefühlen geradezu überschwemmt.

Die zweite Handfessel fiel.

„Komm, mein geliebter Oliver … komm zu mir … lass mich dich spüren. Ja, halt mich ganz fest. Wir lassen einander nie wieder los – ja?“

***

Nein, auch das war nicht geplant gewesen – dass er jetzt zudrückte … ebenfalls ganz fest. Und lange. Ob ihr das wohl noch ins Bewusstsein gedrungen war – dass es um ein Haar passiert wäre, er einen kurzen Moment lang tatsächlich bereit gewesen war, sich ihr bedingungslos hinzugeben … ihr sein Herz zu schenken? Er hoffte es inständig.

Was hätte er denn auch anderes tun können? Er hatte doch keine Wahl – wollte er nicht mit ihr zusammen untergehen. Das gerade eben war für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, aus der Nummer einigermaßen heil herauszukommen – vor allem, was seinen Job betraf.

Nein, ein solches Ende hatte sein Auftrag nicht vorgesehen. In der Polizeiakte würde er es deshalb wohl als Betriebsunfall vermerken. … Egal. Die Akte – die mit den vermissten neun Männern – konnte jetzt jedenfalls geschlossen werden. Mehr als ein Jahr lang hatte er Linda beschattet. Warum es letztlich so endete … wie es endete?

Er wollte es gar nicht mehr wissen … es würde ohnehin keinen Sinn mehr machen. Oliver – das war sogar sein richtiger Name – setzte jetzt die Cognacflasche an. Leerte sie mit einem Zug. Mit oder ohne Betäubungsmittel, das war ihm vollkommen egal. Linda lag vor ihm, das Gesicht weggedreht.

Er strich ihr übers Haar.