Haut an Haut

Shortstory von Guido Sawatzki

Es machte ihn ganz kirre … ja, wirklich. Denn er wusste nichts damit anzufangen – überhaupt nicht! Nicht dass er etwa nervös wäre … deswegen. Aber nie im Leben! Warum auch … dennoch. Ein anderer – ja, einer, der auch anders geartet war wie er -, hätte sich wahrscheinlich ganz toll gefühlt … ein inwendiges Prickeln zum einen ob der ungewohnten Situation, aber auch, weil es sich so anfühlte, dass daraus durchaus noch etwas werden konnte – bei dieser Frau … mit dieser Frau.

Warum? Weil es sich so anfühlte … weil SIE sich so anfühlte! Er spürte es durch den Ärmel seines dünnen Leinenhemdes hindurch … nahezu körperlich – bis auf die Haut.

Es war ein lauer Sommerabend mit Temperaturen um die 25 Grad. Immerhin. Sein Sakko – zu einem Konzert ging er nie ohne – hatte er sich gleich zu Beginn locker über die übereinandergeschlagenen Beine gelegt. (Nebenbei gesagt, war dies vor allem mit Blick auf die weitere Entwicklung … wie soll ich es auch anders formulieren (?) … eine kluge Entscheidung. Eine sehr kluge sogar.) Doch hier und heute, zumal bei diesem Wetter und in dieser beinahe heiter zu nennenden Umgebung war jede übertriebene Förmlichkeit beispielsweise in punkto Kleidung fehl am Platz … vollkommen! Zugegeben – diese atmosphärische Lockerheit war eher dem Publikum geschuldet, denn dem klösterlichen Ambiente.

Nicht wegzudiskutieren war jedoch, dass er, wie sicherlich die meisten der Konzertbesucher hier, ganz unter dem Bann der Schlichtheit und Eleganz dieses Gemäuers aus der Zeit der Hochgotik stand, welche jedweder klösterlichen Strenge, die man hätte annehmen können, von vornherein den Stachel nahm … dessen Zauber er regelrecht erlegen war.  Nein, sinnierte er, er sollte es treffender formulieren. Wie würde denn dieser Text passen: „Ein gefühlter Wohlklang, der, spielerisch tänzelnd und in Erwartung der dargebotenen klassischen Werke in geradezu schwelgerischer Verträumtheit jedem sogleich die Sinne umgarnte.“ Zugegeben – reichlich Old fashioned … aber in sich stimmig.

Ganz bestimmt war es auch dem Klang und der suggestiven Macht der Instrumente zu verdanken, dass die Darbietung offenbar großenteils den Erwartungen des Publikums gerecht wurde – trotz des, für seinen Geschmack von den Solisten allzu offen an den Tag gelegten, geradezu schroffen und abweisenden Perfektionismus‘.

Zeit für Gefühle sieht anders aus, dachte er bei sich. Wenn er Perfektionismus pur erleben wollte, dann legte er mal eben bei sich zu Hause eine CD auf. Bei Konzerten wie diesem jedoch, zumal an einem solchen Ort, lauschte er, wenn er ehrlich sein wollte, insgeheim immer auf die gewissen, die unverhofften und einzigartigen Zwischentöne, von denen er sich ganz bewusst einfangen lassen wollte. Ja, so seltsam es für manchen klingen mochte: Er hatte dort den Anspruch, überwältigt – oder zumindest überrascht – zu werden … von etwas völlig Neuem, Unbekanntem. Solche Plätze hatten für ihn fast etwas Spirituelles, bargen etwas Sehnsuchtsvolles, waren am Ende die Erlösung schlechthin … oder sollten es zumindest sein.

Er war innerlich derart angespannt, dass er enorme Mühe hatte, seine Nervosität zu zügeln. Während des Konzerts sah er sich immer wieder verstohlen um – auch, um zu erkunden, ob andere sein Gefühl teilten … dass das, was da an Tönen so vollkommen emotionslos auf das in andächtigem Schweigen verharrende Publikum herniederprasselte, wirklich professionellen Ansprüchen nicht gerecht wurde.

Und nein – er war mit diesen Überlegungen nicht allein. Denn SIE jedenfalls, so sein Eindruck, schien es ihm gleichzutun; registrierte ebenfalls aufmerksam die Zwischentöne … genauso wie er. Da sie direkt neben ihm saß, spürte er die feinen Schwingungen, die von ihr ausgingen und Ähnlichkeit mit kleinen Stromstößen hatten, unmittelbar. Zudem ließ sie eine irgendwie unbestimmbare Sehnsucht erahnen … nach mehr – nach Wärme vielleicht? Auf den ersten Blick schien dies ein absurder Gedanke angesichts der noch immer hochsommerlichen Temperaturen. Dennoch – er hatte das Gefühl, es handelte sich hierbei um eine ganz besondere Sehnsucht … eine, die ihre Wurzeln im schöpferisch Geistigen hatte, eine von der Art, die durch und durch ging; eine solche, von der man sich unbedingt anstecken lassen WOLLTE – auf jeden Fall! Denn diese Sehnsucht – er zögerte, sie zu benennen, – war eine körperliche … eine Lust auf Leben. Eindeutig!

Diese, ihre (möglichen) Gedanken teilte er in vollem Umfang … er gestand es sich freiwillig ein, ohne dass man es auf dem Folterstuhl hätte aus ihm herauspressen müssen. Anders konnte er sich seine eigene Reaktion nicht erklären. Sehnsucht ist emotional … immer. Zwar finden wir dafür auch eine rationale und vielleicht darüber hinaus sogar plausible Erklärung – möglich auch, dass dieser Ansatz in eine Sackgasse führt. Er für seinen Teil plädierte dafür, dass die Menschen ihre eigenen Gefühle ebenso wie die anderer ernst nahmen. Gerade echte und aufrichtige Gefühle verlangten seiner Meinung nach, ihnen mit tiefer Ehrfurcht entgegenzutreten. In einem echten Gefühl steckte mehr Wahrheit als in der gesamten Bibel … ins Unreine gesprochen.  Das virtuose Spiel zwischen Flöte und Violoncello inmitten dieser Klostermauern ließ etwas von dem erotisch-göttlichen Funken erahnen, den der „Schöpfer“ einst zwischen Adam und Eva hin- und her tanzen ließ … und zwar so lange, bis sie nicht mehr anders konnten und zum Sündenfall wurden.

Ja, sicher – auch mit diesem, wahrscheinlich unsäglich banalen Beispiel entschuldigte er sein Verhalten im Nachhinein … obwohl es da eigentlich nichts zu entschuldigen gab. Schuld im eigentlichen Sinn brauchte er sich ohnehin nicht ans Bein zu binden … salopp gesagt. Und wenn, dann „ent-schuldete“ er sein Verhalten im Nachhinein – frei von der Leber weg mit demselben Gleichnis … eben dem von Adam und Eva. Punktum. Wer lässt sich denn auch gerne ans Bein pinkeln, vor allem wenn er sicher ist, sich nichts vorwerfen zu müssen?

***

Nun – kehren wir zurück in die Realität … ins Kloster Bebenhausen. Ganz offensichtlich wurde das Orchester seinen Ansprüchen an das Konzert in vielfältiger Weise nicht gerecht. So fehlte ihm beispielsweise an vielen Stellen des musikalischen Vortrags einfach die Virtuosität … und damit die Lebendigkeit. Und dass da ein Wesen von Fleisch und Blut neben ihm saß, welches (nach seinem Eindruck) offensichtlich denselben Gedanken nachhing wie er, registrierte … fühlte … spürte er nach den ersten 20 Minuten. Diese (laut Programm) „fünf griechischen Tänze für Kammerorchester“ aus der Feder des Komponisten Nikos Skalkottas mussten anders gespielt werden … MUSSTEN! Wären sie – also ER und SIE – sich in der Bewertung dessen nicht so einig gewesen, dann wäre das, was sich innerhalb dieser zwei Stunden ereignete, niemals passiert … ich betone: Niemals.

War es Hilflosigkeit – weil sie nichts dagegen tun konnte, sich genauso ohnmächtig fühlte wie er -, die sie dazu nötigte, nach Kumpanen … nach Leidensgenossen zu suchen? Dafür, dass, wie erwähnt, dieses Stück hätte anders interpretiert werden müssen – und niemand dagegen einschritt? Betrachtete sie etwa ihn als einen solchen Kumpan? Nun, jedenfalls spürte er, dass, je weiter das Konzert voranschritt, der Abstand zwischen ihnen immer kleiner wurde, sie ihm buchstäblich auf den Leib rückte.

Natürlich betrachtete er dies zu Anfang als ein Versehen. Das stellte er denn auch klar, indem er sich etwas von ihr entfernte … allerdings nur um wenige Zentimeter. Letzteres ging nur bedingt, weil zu seiner Rechten eine gute Freundin saß. Aus verschiedenen Gründen war er der Ansicht – unter anderem, weil sie in festen Händen war –, ihr nicht das Gefühl geben zu dürfen, er würde die durch die besonderen Umstände mehr oder minder erzwungene Situation – Konzert mit enger Bestuhlung – ausnutzen wollen. Also blieb ihm am Ende nichts anderes übrig, als die Frau zu seiner Linken in ihrer augenfälligen Sehnsucht nach körperlicher Nähe gewähren zu lassen.

Er bemerkte jedoch auch, dass das, was da zwischen ihm und der Fremden geschah, mit der Zeit nicht unbemerkt blieb. Irgendwann nämlich griff der schräg unterhalb von ihnen sitzende Mann – er hatte sie wohl schon länger aus den Augenwinkeln heraus beobachtet – während des Konzerts nach der Hand der Frau und sprach sie an. Man muss dazu wissen, dass hier im Kloster Bebenhausen standardmäßig oberhalb der regulären Stuhlreihen bogenförmig Sitzbänke aufgestellt sind. Offensichtlich war unten direkt neben ihrem Begleiter kein Platz mehr frei gewesen, sodass sie jetzt oberhalb auf den Bänken, etwas versetzt von ihm saß.

„Wollen wir nicht die Plätze tauschen? Von hier aus siehst du alles viel besser.“ Das war natürlich gelogen, schon allein wegen der Sitzposition des Mannes, offenkundig ihr Ehemann. Sie hatte von ihrem Sitzplatz aus definitiv den besseren Blick auf das Orchester, aber ihr Partner schien die Situation durchschaut zu haben … zumindest missbilligte er die körperliche, fast schon intime Nähe seiner Frau zu diesem Mann neben ihr. Als er ein paar Minuten später ihre Hand fester umfasste – womöglich um sie zu sich herzuziehen –, riss sie sich von ihm los und zischelte ein deutliches „Nein“. Letzteres war nicht nur eindeutig … es klang schon beinahe hasserfüllt.

Mittlerweile saß sie so nah bei ihm, dem Fremden, dass dieser durch den Stoff seiner Hose hindurch überdeutlich die Hitze ihrer Schenkel spürte. Ungeachtet der giftigen Blicke ihres Partners unternahm er nichts, um sie zu bremsen – im Gegenteil. Weil er ihre Lust und ihre eindeutigen Gedanken dabei förmlich spüren konnte, erwiderte er sanft den zunehmenden Druck ihrer Hüfte. Ob wohl die Pause die Situation klären würde?

Als der Pausengong ertönte, war sie es, die ihren Mann brüsk am Arm packte und ihn regelrecht hinter sich herzog – ohne sich umzudrehen. ER war sich sicher, die beiden nicht mehr wiederzusehen. Deshalb war er auch mehr als überrascht, dass sie sich nach der Pause wieder neben ihn setzte – ihr Mann war allerdings weit und breit nicht zu sehen. Ohne jede weitere Erklärung flüsterte sie ihm ins Ohr: „Er kommt nicht wieder …“. Kaum setzte das Orchester wieder ein, da spürte er ihre Hand auf seinem Schenkel, die sich zielstrebig und fordernd nach oben bewegte. Noch bevor er reagieren konnte, hatte die Frau den Reißverschluss seiner Hose aufgezogen. Er beglückwünschte sich insgeheim dafür, dass er sein Sakko in weiser Voraussicht wieder auf seinen Schoß gelegt hatte. Was sie dann in der nächsten Dreiviertelstunde mit ihm anstellte, erweckte in ihm ein Feuerwerk widersprüchlichster Gefühle. War es doch nicht einmal eine Stunde her, dass sie und ihr Begleiter vor Konzertbeginn noch heftig miteinander geknutscht hatten, bevor sie dann neben IHM Platz nahm!

Er fühlte sich ihr hilflos ausgeliefert. Haut an Haut … bei Gott, spürte er sie! Vorsichtig schaute er zu seiner Begleitung zur Rechten. Diese bemerkte seinen Blick sofort, lächelte ihn dankbar an, nahm seine freie, auf dem Sakko liegende Hand und flüsterte: „Schön, dass es dir gefällt.“

Verdammt – wenn sie wüsste, WAS ihm in diesem Moment so sehr gefiel … . Zum Glück hatte seine Gefährtin seine Hand gleich wieder losgelassen und widmete sich wieder mit Hingabe dem Konzert. Er hatte allergrößte Mühe, ein Stöhnen zu unterdrücken … alles in ihm schien zu explodieren. Sie schien es zu genießen, denn sie zog ihre Hand danach nicht zurück, sondern spielte weiter mit ihm. Das ging bis kurz vor Ende des Konzerts so. Verständlicherweise wusste er später auf die Frage seiner Begleiterin zur Rechten, welche Passagen ihm denn nun am besten gefallen hätten, zu deren Verwunderung nur relativ einsilbig zu antworten. Was seine Sitznachbarin zur Linken ihm allerdings für den Nachhauseweg leise ins Ohr sagte, ließ ihn die Situation noch sonderbarer erscheinen: „Nie mehr … er wird nie mehr zwischen uns stehen. Ruf mich an.“ Später fand er zu seiner Verblüffung ihre Visitenkarte – versteckt hinter dem Gummi seines Slips.

Ihr Ehemann tauchte übrigens doch wieder auf – im wahrsten Sinn des Wortes. Etwa zwei Tage später wurde er im nahegelegenen Goldersbach an einem Gestrüpp hängend aufgefunden. Die Obduktion ergab einen „Genickbruch ohne Fremdeinwirkung“ – vermutlich verursacht durch den Sturz von der Brücke hinter dem Kloster auf einen im Wasser liegenden Felsen. Verwunderlich fanden die Beamten nur, dass die Witwe zur Identifizierung des Toten nicht, wie in solchen Fällen üblich, schwarz gekleidet kam, sondern in einem luftigen, fröhlich gemusterten, tiefdekolletierten Kleid erschien.

Dasselbe Kleid trug sie dann übrigens auch auf der Beerdigung. Während der Zeremonie wurde – Zufall oder nicht (?) – dasselbe Stück wie auf dem damaligen Konzert gespielt: Skalkottas griechische Tänze; die Hauptinstrumente auch hier: Violoncello und Flöte … diesmal allerdings ungleich flotter. Die Teilnehmer am Begräbnis deuteten dies als Zeichen innigster Verbundenheit mit ihrem verstorbenen Gatten. Die ohnehin wenigen Trauergäste hatten sich in Ermangelung eines so genannten Leichenschmauses ziemlich rasch verabschiedet. Sie hingegen blieb am Grab noch eine Weile unschlüssig stehen, wirkte nervös und gedankenverloren. Plötzlich klingelte ihr Handy. Sie hob ab und innerhalb von Sekunden veränderte sich ihr bis dahin äußerst angespannter Gesichtsausdruck – so, als ob in diesem einen Augenblick alle Last dieser Welt von ihr abfallen würde.

„Ich warte am Tor auf dich.“ Nur diesen einen Satz hatte ER gesagt.