Ohne Zeugen …

Shortstory von Guido Sawatzki

Wir wohnen in einer ruhigen Siedlung … in einer ebenso ruhigen Straße – mein Nachbar und ich. Dass es so ist – und auch so bleibt, verdanken wir der offenkundigen Tatsache, dass unsere Werte die gleichen sind; wir also zum Beispiel aufeinander Rücksicht nehmen – ungeachtet unserer sonstigen persönlichen Ansichten und Veranlagungen.

Das ist nicht immer leicht, glauben Sie mir. Doch egal, ob ich aus seinem Haus nebenan Lärm oder sogar Schreie höre – Schreie von Frauen -, wir respektieren einander; haben Verständnis für die Welt des jeweils anderen. Selbst wenn ich durch einen Zufall sehe – also mit eigenen Augen sehe -, dass dieser Mann, mein Nachbar, seine Mutter an den Haaren vom Fenster wegzerrt und mit den Fäusten auf sie einschlägt, bloß weil sie, wie ich danach erfuhr, wieder mal eine Kerze am Bildnis ihres Mannes anzünden wollte, das seit Jahrzehnten dort auf dem Fensterbrett steht … Nein, ich tue nichts dagegen. Ich nehme die Situation einfach so, wie sie ist.

Ja – man muss auch Verständnis für den andern haben; selbst dann, wenn es den eigenen Vorstellungen zuwiderläuft. Also schweige ich. Vielleicht ist es in seiner Welt – also so, wie ER sich die Dinge zurechtgelegt hat – nicht unüblich, Frauen zu schlagen, die sich dem Willen des Mannes nicht beugen wollen. Nein – der Schein muss gewahrt werden.

Wichtig bei allem ist nur, dass wir uns auch am Tag danach immer noch in die Augen schauen können. Wenn wir nach einem solchen Vorfall also zum Beispiel zur selben Zeit zum Briefkasten gehen, weil der Briefträger gerade da war, dann geschieht das oft nur zur gegenseitigen Kontrolle – denn auch das ist wichtig -, damit wir uns durch den Blick in die Augen des anderen vergewissern können, ob noch alles gleich geblieben ist … trotz der „Vorkommnisse“. So weiß jeder von uns, wie er mit dem anderen dran ist.

Wenn ich ohne besonderen Anlass, also rein zufällig, meinem Nachbarn begegne – wenn es also mal eine oder gar mehrere Nächte hintereinander ruhig geblieben ist –, dann zeige ich ihm durch mein Verhalten zwar, dass ich ihn sehr wohl bemerkt habe; aber dadurch, dass ich vortäusche, als ob dies nicht der Fall sei, bestätige ich ihn in seiner Souveränität … in seinem Status quo.

Vermutlich ist der Leser dieser Zeilen noch nie in einer solchen Situation gewesen – bei Gott, ich wünsche es auch keinem -, deshalb wird es Ihnen schwerfallen, das zu verstehen. Doch trägt das Ganze nicht unwesentlich zum Erhalt einer soliden nachbarlichen Beziehung bei … meine ich; legt gleichsam den Grundstein hierfür. Aber ich mache mir nichts vor. Den Luxus, so zu agieren, wie ICH es für richtig halte, kann ich mir wohl nur erlauben, weil ich allein lebe … und mir kein Gutmensch oder Moralapostel reinredet.

Gelegentlich ertappe ich meinen Nachbarn dabei, wie er den Gehweg hinunterläuft – mehr oder weniger zielstrebig … wer weiß das schon – und mit einer mitgebrachten Heckenschere die Zweige, die aus den anliegenden Grundstücken auf den Bürgersteig ragen, abschneidet. Dass er das spontan tut, kann man sicher nicht behaupten – denn wer nimmt für unterwegs schon eine Heckenschere mit. Genauso gut könnte ich meine Kettensäge ständig im Kofferraum meines Wagens mitführen … oder? Das wäre aus meiner Sicht jedenfalls genauso abwegig.

Bei aller Bereitschaft, auch mein eigenes Verhalten kritisch zu überdenken, fällt es mir zusehends schwerer, Verständnis für seine Marotten aufzubringen. Wenn ich ihn – in letzter Zeit öfter – draußen beobachte, wie pedantisch und geradezu liebevoll er mit behandschuhten Händen über die Karosserie eines seiner Autos streicht – in gebückter Haltung und die Augen knapp zehn Zentimeter über dem Blech … dem heiligen, dann rebelliert etwas in mir. Eines Tages wird der Abdruck seiner Lippen auf dem Blech zu sehen sein – da bin ich mir ganz sicher.

Auf mich erweckt mein Nachbar den Eindruck eines Mannes, bei dem alles seine Ordnung haben, alles im Lot sein muss. Für einen wie ihn muss es entsetzlich anstrengend sein, Ordnungsprinzipien um jeden Preis aufrecht zu erhalten – vor allem, wenn man mit niemandem außer mit Mutter und Schwester darüber reden kann. Anders lassen sich sein ständig verkniffener Gesichtsausdruck und seine zusammengepressten Lippen nicht erklären.

Ja – ich halte ihn durchaus für einen Einzelgänger. Zu seiner Entlastung könnte ich vorbringen, dass er sich wahrscheinlich als Einzelkämpfer sieht; einer, der sich niemals von seiner, einmal eingeschlagenen Linie abbringen lässt. So jemand hat zunächst mal meinen Respekt verdient. Dass er sich abkapselt von den Nachbarn … das zu behaupten – nein, soweit würde ich nicht gehen. Er ist eben einer, der die Dinge anders regelt … auf seine Weise.

Apropos Nachbarn: Ich glaube beinahe, er weiß mehr über sie, als sie selbst über sich jemals wissen werden. Was er wohl über mich weiß? Offenbar noch zu wenig, als dass er sich meiner Reaktionen sicher sein kann. Immerhin hat er sich noch nicht getraut, einen der ausladenden Zweige meiner üppigen Wildsträucher, denen ich jede Menge Freiheit lasse und die an meinem Grundstücksrand vor sich hinwachsen, zu kappen.

Aber ärgern tut ihn das schon … da bin ich mir ziemlich sicher. Einmal gestikulierte er beim Gespräch mit einem der anderen Nachbarn wie wild mit beiden Händen … wobei er immer wieder auf meine Bäume und Sträucher deutete. Die Natur lässt sich nun mal nicht dauerhaft im Zaum halten, kam mir da in den Sinn.

Dennoch – wir respektieren einander … lassen uns zumindest in Ruhe.

Wie wird man so, schießt es mir das eine oder andere Mal durch den Kopf – woher kommt dieses greisenhaft anmutende Scheuklappendenken?! Dabei ist er doch höchstens um die fünfzig. Er kann es sich doch nicht zur alleinigen Lebensaufgabe gemacht haben, sich gegen alles Lebendige – egal, ob Mensch oder Pflanze – zu stemmen, das sich seiner natürlichen Bestimmung entsprechend frei entfalten und sich weiterentwickeln will.

Meines Wissens nach ist mein Nachbar Bauer von Beruf; also einer, der auf dem Feld und im Wald heimisch ist und mit der Natur auf du und du sein sollte. Soweit ich weiß, gehören ihm sogar zwei riesige Traktoren, mit denen er im Auftrag der Kommune Holzstämme aus dem Wald zieht. Dass seine schweren Maschinen dabei den Waldboden verdichten und somit unendlich viel Lebensraum für Kleinstlebewesen vernichten – ich glaube, solche Gedanken kennt er nicht. So, wie ich ihn einschätze, ergötzt er sich sogar daran, alles Grün plattzumachen. Regelmäßig umrundet er sein eigenes, mit Asphalt und Beton versiegeltes Grundstück, um jeden noch so geringen Ansatz von Leben mit der Giftspritze im Keim zu ersticken.

Erst heute wieder – die Nacht brach schon herein – war er mit dem Giftkanister auf seinem Grundstück unterwegs. Nein … er ist nicht mein Freund.

***

Meinem Gefühl nach hat sein Haus eher etwas von einem Gefängnis, welches man nur verlassen darf, nachdem man IHN um Erlaubnis gefragt hat. Während er nach dem Prinzip zu handeln scheint, alles ist verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, lebt seine Schwester nach dem Grundsatz: Alles ist erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist. Und das, obwohl sie weder einen geisteswissenschaftlichen Beruf ausübt noch freischaffende Künstlerin ist, sondern völlig bodenständig irgendwo in der Verwaltung einer Großstadt arbeitet.

Mir fällt gelegentlich auf, dass ich seine Schwester nur selten vor dem Haus sehe; mache mir deswegen aber keine großartigen Gedanken. Sie macht auf mich einen sehr aufgeschlossenen Eindruck, bewegt sich jedenfalls nicht zwanghaft durch die Welt; ganz anders also als er, mit seiner eingeschränkten Sichtweise. Auch versucht sie, sehr zum Verdruss ihres Bruders, ganz offensichtlich die Grenzen ihres Hauses zu sprengen und verstößt damit seiner Ansicht nach gegen gesellschaftliche Konventionen – und gegen die vom Gesetzgeber verordneten Regeln.

Das eine oder andere Mal habe ich sie dabei beobachtet, wie sie kurz nach Mitternacht aus ihrem Schlafzimmerfenster geklettert ist … da war sie schon im Pyjama. Komisch fand ich allerdings, dass sie hierbei kein konkretes Ziel zu haben schien; vielmehr umrundete sie das Grundstück – und das gleich mehrfach -, setzte dabei wie in Trance einen Fuß vor den andern … unendlich langsam.  Nach einiger Zeit kehrte sie auf dieselbe Weise ins Haus zurück – ich vermute, weil sie müde wurde; oder vielleicht war ihr auch einfach nur kalt … schließlich war sie barfüßig unterwegs. Zu ihrem Glück hat sie ihr Bruder dabei nicht ertappt. 

Wie können Menschen unter solchen Bedingungen zusammen in einem Haus leben, frage ich mich manchmal – und, vor allem: Wie hält SIE das auf die Dauer aus? Weder sie noch ihr Bruder sind verheiratet. Dabei ist sie auffallend hübsch. Wenn ich ihr gelegentlich auf der Straße begegne, lächelt sie mich jedes Mal an … hm – ich weiß dann immer nicht, wie ich damit umgehen soll und grinse im Vorübergehen etwas unbeholfen zurück. Übrigens hat sie mich in ebeneiner solchen Situation erst vor wenigen Tagen namentlich begrüßt. Zum allerersten Mal!

Ist es reine Geschwisterliebe, was die beiden zusammenhält? Oder womöglich die Sorge um ihre alte, verwitwete Mutter, die schon seit Jahrzehnten in einem Zimmer ihres gemeinsamen Hauses dahinvegetiert … ja, regelrecht weggeschlossen ist und vom Sohn drangsaliert wird, wie ich manchmal den Eindruck habe? Er besitzt drei Autos, kutschiert aber seine Mutter immer im kleinsten, unbequemsten durch die Gegend. Ob sie das so möchte? Ich weiß es nicht.

Nach außen hin scheint er sich fürsorglich um seine Mutter zu kümmern, gibt sich beispielsweise beim Ein- und Aussteigen ungemein hilfsbereit. Damit sie mit dem Rollator die drei Stufen vor dem Hauseingang besser schafft, hat er eigens eine kleine Rampe aus Holz für sie gebaut. Dennoch scheint er sie strikt unter seiner Kontrolle zu halten. Als sie einmal zum Todestag ihres Mannes neben dessen Foto auf dem Fensterbrett eine Kerze anzünden wollte, konnte ich sehen, wie er sie brutal beiseitestieß und die Kerze, aufgebracht wie er war, anschließend in den Müll warf.

Seine Schwester hält sich nach meinem Eindruck da eher zurück. Zwar versteht sie sich wohl nicht so recht mit ihrer Mutter, aber dass sie ihr gegenüber so übergriffig werden könnte wie ihr Bruder – völlig undenkbar. Auch scheint sie psychisch stark genug zu sein, um sich ihren Freiraum zu erhalten – sowohl der Mutter als auch dem tyrannischen Bruder gegenüber. Eigentlich logisch, denke ich, schließlich kommt sie viel mit anderen Menschen zusammen – nicht zuletzt durch ihre Arbeit – und sieht, was andere aus ihrem Leben machen. Auch scheint sie mir grundsätzlich offener zu sein … für alles. Er hingegen, so mein persönlicher Eindruck, läuft mit Scheuklappen durchs Leben; geht stur die eingelaufenen Pfade.

Da hat sie doch tatsächlich vor ein paar Tagen eine Pflanze mitten auf seinen, fünfmal fünfzehn Meter großen zugepflasterten Vorhof gestellt. Kaum war er Freitag früh zu einem verlängerten Wochenende gemeinsam mit seiner Mutter aufgebrochen, da sehe ich, wie sie einen Eukalyptusstrauch von ihrem Autodach zieht. Für meinen Geschmack macht sich die Pflanze optisch hervorragend – insbesondere vor dieser eintönigen Kulisse.

Na, das kann noch spannend werden, denke ich bei mir – so gewalttätig, wie er sein kann.

***

Von meinem Küchenfenster aus – ich mache mir gerade eine Suppe – sehe ich das Auto der beiden Ausflügler heranfahren. Natürlich erwarte ich jetzt, dass er seiner Mutter, wie sonst immer, aus dem Wagen hilft und sie liebevoll ins Haus begleitet. Doch nichts davon geschieht. Vielmehr reißt er seine Autotür auf, ist mit wenigen Sprüngen bei der eingetopften Pflanze, hebt sie mit einem Ruck hoch, läuft zu der hinter einem Verschlag verborgenen, großen Abfallgrube und schleudert sie mit Schwung hinein … mitsamt dem Plastikkübel.

Und – wie wird SIE reagieren? Ich warte … erwarte, dass sie aus dem Haus stürzt und einen gewaltigen Streit vom Zaune bricht. Fünf Minuten halte ich durch, dann widme ich mich wieder meiner Tütensuppe, die ich mit frischen Tomaten und einer Handvoll Basilikum – nein, ein Traumkoch bin ich nicht – aufgepeppt habe. Kalt braucht sie wirklich nicht zu werden. Zwischendurch werfe ich immer wieder einen Blick nach draußen – doch nichts tut sich. Auch im Auto sitzt niemand mehr.

Mittlerweile ist es draußen stockfinster. Da, eine Bewegung! Jemand schleicht sich – anders lässt es sich nicht beschreiben – vom Hauseingang zu dem abgestellten Auto … mit einem Eispickel bewaffnet. Ich halte den Atem an. Etwas ungewöhnlich, denke ich noch; ich selber habe solch einen bei mir im Keller liegen … von früher, von meinen Kletterausflügen in Gletschergebiete; mit einem Lederschutz vorn und hinten, schließlich ist die Spitze ziemlich scharf. Plötzlich – ich kann es kaum fassen – sehe ich, wie die vermummte Person mit großer Wucht auf die Reifen einschlägt. Selbst auf diese Entfernung lässt sich erkennen, wie sich die Karosserie langsam absenkt.

Die Person streckt und reckt sich … es war wohl doch anstrengender als vermutet. Offensichtlich erschöpft, schiebt sie sich die Kapuze, die wohl ihre Identität verschleiern sollte, vom Kopf. Eigentlich eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme, denke ich, da sich in unsere Straße weder häufig ein Auto verirrt noch neugierige Nachbarn zu erwarten sind; zumal allein durch das Reifenmaterial derartige Schläge, noch dazu mit einem spitzen Gegenstand, kaum zu hören sein dürften. Wallendes, dunkelbraunes Haar … ja, das ist sie tatsächlich – seine Schwester; die jetzt offenbar zum Racheengel mutiert ist.

Danach sehe ich sie in aller Ruhe zu einem kleinen Verschlag gehen, wo ihr Bruder wohl sein Pflanzengift gelagert hat … zumindest habe ich ihn mit dem leeren Behälter dort immer wieder hinlaufen sehen. Kurz danach kehrt sie mit einem Gefäß in der Hand zurück. Ich greife zum Fernglas, das ich immer auf der Fensterbank stehen habe, um damit die Vögel in meinem kleinen „Urwald“ besser beobachten zu können. Im selben Moment, als ich es zu den Augen hebe, sehe ich sie zu mir hinaufschauen. Möglicherweise hat mich ein Lichtreflex auf dem Glas verraten; oder sie hat gespürt, dass sie beobachtet wird.

Ich traue meinen Augen nicht … sie winkt mir zu! … Ganz so, als ob sie mich auffordern wollte, zu ihr nach unten zu kommen; fehlte nur noch, dass sie gerufen hätte, „nun beweg‘ doch endlich Deinen Hintern hierher!“. In der anderen Hand hält sie eine Art Bierglas, in dem ich eine klare Flüssigkeit zu erkennen glaube. Sie bleibt stehen. Wartet offenbar auf eine Reaktion von mir. Ich winke zurück … nicke ihr zu; unsicher, ob sie das auf die Entfernung hin überhaupt erkennen kann. Ja – ich überlege ernsthaft, ihrer „Einladung“ zu folgen.

Ein kurzer Moment des Zögerns nur, dann werfe ich mir kurz entschlossen eine dicke Jacke über; schließlich ist es draußen schon herbstlich kühl. Die Hand bereits an der äußeren Türklinke, scheint mich der Mut doch noch zu verlassen … ich bin verunsichert, denke, das kann doch alles nicht wahr sein! Ich schaue zu ihr hinüber, vergewissere mich, dass ich nicht träume oder unter Wahnvorstellungen leide. Nein – sie hat sich noch keinen Schritt wegbewegt. Ich komme näher. Erst jetzt, mit der engen schwarzen Lederjeans und dem ebenfalls enganliegenden Kapuzenpullover fällt mir auf, wie sexy sie ist. Ich weiß, es klingt kitschig, passt auch eigentlich gar nicht zu dieser skurrilen Situation, doch sage ich dies ganz spontan – und stehe auch dazu.

„Benutzt du das Fernglas öfters?“ fragt sie. Ich kann zunächst gar nicht antworten, so sehr verblüfft mich ihre Frage und dieses selbstverständliche Du; als ob dies im Moment das Wichtigste auf der Welt wäre. Ob sie mich jetzt für einen Spanner hält? Ich erzähle ihr von meinen Vogelbeobachtungen; völlig sachlich. Sie scheint es mir abzunehmen. „Ja, ich tue das auch gelegentlich – du hast ein sehr schönes Grundstück, auf dem sich auch die Tierwelt wohlfühlt“, erwidert sie … ebenfalls ganz sachlich. Spontan fügt sie, etwas leiser, hinzu: „Auch ich würde mich dort wohlfühlen.“ Dieser Satz war von ihr wohl nicht beabsichtigt, denn sie presst die Lippen zusammen … senkt den Kopf. Trotz der Dunkelheit erkenne ich, dass sie dabei rot geworden ist. Um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen, drehe ich mich schnell zur Seite. Die Situation erscheint mir zunehmend grotesk. Also hat möglicherweise auch sie ein Fernglas … mit dem sie wahrscheinlich nicht nur Vögel beobachtet. Ihr Zimmer, in dem ich gelegentlich Licht brennen und sie arbeiten sehe, liegt nur etwas unterhalb von meinem Arbeitszimmer. Meist sehe ich sie dort schreiben oder in Büchern blättern. Was genau sie liest, kann ich nicht erkennen; immerhin sind es bis dorthin mindestens zehn Meter.

Sie scheint meine Gedanken lesen zu können … reicht mir die Hand. „Ich heiße Gesine. Du solltest jetzt nicht zu viel fragen. Lass es uns auf später verschieben – ja? Bitte.“ Als sie dann noch nach meiner Hand greift und ich ihre Wärme spüre, schmilzt jeder Widerstand bei mir dahin – wenn ein solcher denn überhaupt vorhanden war. Egal, wie das Ganze sich weiterentwickeln wird, denke ich bei mir, dieser eine Augenblick gibt mir viel … sehr viel.

Ich muss mich räuspern. „Was hast du vor … Gesine?“ „Er muss weg, einfach weg. Er stiehlt mir mein Leben; würde mich am liebsten weiterhin als seine Sklavin halten … für ALLES – wenn du verstehst.“ Ihre Stimme klingt jetzt verzweifelt. Sie drückt meine Hand. Ich erwidere diesen Druck … ganz leicht, aber so, dass sie merkt, dass ich auf ihrer Seite stehe.

„Ich gehe jetzt hinein … allein. Bleib du bitte draußen, außer es würde etwas Unvorhersehbares passieren … ja?“

Obwohl ich sie kaum kenne, ergreift eine Ruhe und eine Zuversicht von mir Besitz, wie ich sie so noch nie erlebt habe. Zehn Jahre lebe ich jetzt schon allein und ich merke plötzlich, dass es mir guttut, auf einen Menschen zu treffen, auf den ich mich einlassen könnte. Trotz der geschlossenen Fenster höre ich, wie sie ihn wegen des Strauchs zur Rede stellt, dann aber, ganz sicher aus taktischen Gründen, auf ihn zugeht – ihm sogar zu schmeicheln beginnt. „Ich weiß, es war ein Fehler, dich so derart vor vollendete Tatsachen zu stellen. … Warte, ich schenk‘ dir erstmal ein Bier ein.“

„Das darfst du, mein Engelchen“, höre ich ihn höhnisch herumkrakeelen und sehe, wie er gleichzeitig hinter seinem breiten Gürtel ganz langsam eine kurze Lederpeitsche hervorzieht. „Aber Strafe muss trotzdem sein – das ist ja nichts Neues für dich …“.

Durch einen Vorhangspalt kann ich erkennen, wie sie ihm den Rücken zudreht und in das mitgebrachte Glas mit der Flüssigkeit Bier einschenkt. Innerlich bin ich entsetzt, vermute ich doch, was für einen Giftcocktail sie ihm da gerade mixt. Einen Augenblick lang überlege ich noch, an der Außenklingel Sturm zu klingeln, als ich sehe, wie er das Glas in einem Zug leert. Wenige Sekunden später fasst er sich an den Hals, schnappt nach Luft, röchelt zum Gotterbarmen … verkrampft sich und bricht in die Knie. Die Augen quellen ihm heraus, er kippt zur Seite.

Ich klopfe an die Fensterscheibe. Da erst bemerkt sie, dass ich Zeuge des ganzen Geschehens geworden bin. Sie öffnet die Haustür und fällt mir in die spontan ausgebreiteten Arme. Als sie sich an mich drückt, spüre ich, wie sie am ganzen Körper bebt, sehe die Tränen, die ihr die Wangen herunterlaufen … streichle ihr sachte über den Rücken. Hm … dafür, dass sie ihren Bruder erst vor wenigen Augenblicken ziemlich zielstrebig vom Leben zum Tode befördert hat, kommt mir dieser emotionale Umschwung doch ein bisschen plötzlich. Immerhin scheinen ihre Tränen echt zu sein. Ist es der Schock über ihre Tat? Oder sind Frauen vielleicht so … vielleicht. Meine Erfahrungen liegen schon eine ganze Zeit zurück. Ich komme zu dem Schluss, dass sie in dieser Situation unbedingt jemanden braucht, der ihr Stütze sein kann. Warum eigentlich nicht ich?! Unwillkürlich halte ich sie etwas fester. Es fühlt sich gut an … .

„Wirst du mir helfen?“, fragt sie leise. Vermutlich bleibt mir ganz nichts anderes übrig. Hätte sie ihn jetzt nicht ins Jenseits befördert, dann würde ihr Leid wohl nie ein Ende finden. Seine letzten Worte bedurften keines weiteren Kommentars. Sie hatte lediglich einen Schlusspunkt unter das Ganze gesetzt. Hätte die Justiz an der grundsätzlichen Situation, die offenbar schon seit Jahrzehnten so bestand, etwas ändern oder sie gar vor der Rache ihres Bruders schützen können, nachdem sie ihn irgendwann wieder in die Freiheit entlassen hätten? Kaum.

„Was nun?“, frage ich etwas beklommen und schaue ihr in die Augen. „Abfallgrube“, sagt sie mitleidslos. Gemeinsam verstauen wir den leblosen Körper in einen schwarzen Abfallsack. Nachdem wir ihn in die Abfallgrube geschafft und dort unter anderen Müllsäcken versteckt haben, bleiben wir noch einen kurzen Moment lang dort stehen. Ohne groß nachzudenken fassen wir uns an den Händen … wobei sie den Kopf leicht an meine Schulter legt. Ein Geräusch lässt uns zusammenzucken.

„Das habt ihr richtig gemacht, Kinder!“, meldet sich seine Mutter zu Wort. Offenbar hat sie während dieser letzten Aktion hinter uns gestanden und uns beobachtet … die ganze Zeit über. „Auch mich hat er wie einen Schuhabstreifer behandelt … schon jahrelang. Wir haben beide viel gelitten. Aber was du durchmachen musstest … .“ Sie streichelt dabei über den Arm ihrer Tochter. „Männer sind halt so. Sei’s drum … . Jetzt ist er dort, wo er schon lang hingehört – Dreck zu Dreck!“

Zärtliche Berührungen scheinen bei der Mutter Mangelware zu sein, schießt es mir durch den Kopf – so, ungelenk, wie sie das tut. Vermutlich ist ihr soeben auch bewusst geworden, dass sie jetzt nur noch dieses eine Kind hat.

Was allerdings danach folgt, damit kann ich zunächst gar nichts anfangen. „Binde dir jetzt ja nicht wieder einen neuen Klotz ans Bein, meine Kleine …! Doch ich denke, das werden wir zu verhindern wissen.“ Und noch merkwürdiger finde ich den Seitenblick, den sie mir dabei zuwirft. Langsam geht sie ins Haus zurück. Die ungewohnt vielen Worte scheinen sie erschöpft zu haben; ihre Hausschlappen schleifen über den Boden. Wir beobachten, wie sich der Vorhang ein wenig hebt und eine Hand eine Kerze aufs Fensterbrett stellt. „Komm, helfen wir ihr, sie anzuzünden“, sage ich.

Plötzlich umschlingt sie mich fest mit beiden Armen und bedeckt mein Gesicht mit Küssen, sodass mir buchstäblich Hören und Sehen vergeht. Deshalb bekomme ich auch nicht mit, dass ihre Mutter inzwischen fast lautlos das Haus wieder verlassen hat und hinter mich getreten ist – den Eispickel in der Hand.

„Zeugen können wir jetzt keine gebrauchen“, murmelt sie und holt aus.