Abgerutscht

Shortstory von Guido Sawatzki

Am 22. Tag war es soweit. Es ging einfach nicht mehr … SIE konnte nicht mehr.

Vor ihrem Umzug ins Mehrgenerationenhaus – vor ihrem gemeinsamen Umzug, versteht sich – waren sie noch guter Dinge gewesen. In den Wochen zuvor hatten immer wieder Fremde, so genannte Schnäppchenjäger, die überflüssigen Möbel, IHRE Möbel, auf die mitgebrachten Kfz-Anhänger geladen – „Leichentransporter“ nannte sie sie. Wenn sie ehrlich zu sich sein wollten, so konnten sie das alles nur mit äußerster Beherrschung ertragen … versuchten, es auf die leichte Schulter zu nehmen. Wollten sich einbilden, die Möbel seien tatsächlich überflüssig. Dabei hatten die sie doch fast ihr ganzes Leben lang begleitet … . Jedes einzelne Stück hatte seine Bedeutung gehabt … war mit ihnen verwachsen. „Bitte … passen Sie doch auf!“, hatte sie fast verzweifelt gebeten, als sie sah, wie die rauen Hände der Packer mit den guten Stücken umgingen … ihre gerissenen Fingernägel in dem feinen Schleiflack grässliche Spuren hinterließen … an die Türrahmen anschlugen, die Möbelstücke Kratzer und Dellen bekamen. Das mit anzusehen, tat ihr regelrecht weh. Zum Glück war ihr Mann in der Lage, dies alles auszublenden … vermutlich bekam er den Großteil dessen, was hier geschah, ohnehin nicht mehr mit. … Was für ein Glück für ihn, musste sie denken.

Und auch dies war einmalig … dieses, ihr Verhalten. In ihrem ganzen Leben waren sie stets darauf bedacht gewesen, die Dinge, die sie taten, die sie in die Hand nahmen, überlegt zu tun … jeden Schritt unter Kontrolle zu haben. Doch in etwas hineinschlittern, sich in etwas hineinziehen oder gar sich treiben zu lassen – nein. Ihr Leben war zu ernsthaft gewesen. Bruder Leichtfuß hatte zu keiner Zeit eine Chance gehabt – nicht bei ihnen.

Den momentanen Zustand empfanden sie beide als aufgepfropft – obgleich sie ihn selbst herbeigeführt hatten -, als irreal, als einen, dem die Authentizität fehlte … . Es war einer, der ihrem tiefsten Wesen sogar total widersprach. Auch nur deshalb war es ihnen möglich, ihre jetzige Lage und ihr Verhalten mit einem leicht ironischen Unterton zu betrachten … distanziert – fast so, als ob es sie selbst gar nicht beträfe. Wie wäre es, überlegte sie versonnen, wenn sie in einem beliebigen Moment nur mit den Fingern zu schnippen bräuchten – und alles wäre wieder anders … wäre so wie früher – WÄRE früher!

Deshalb war ihre an den Tag gelegte Unbeschwertheit auch nur vorgespielt – in ihrer Zwanghaftigkeit allerdings schon derart offensichtlich, dass sie jedem Außenstehenden ins Auge springen musste. Doch brauchten sie eine solche Selbsttäuschung in diesen Stunden und Tagen offenbar, um diese schrecklichen Tage zu überstehen. Bei ihm, dem noch vor 60 Jahren die Herzen aller Frauen zu Füßen lagen, wie er immer öfter hervorhob – in letzter Zeit häufte sich das in auffälliger, ja, geradezu grotesker Weise –, schien dieses Verhalten glaubhafter.

Oh nein, nicht ohne Grund hatte sie während der vergangenen zwei Jahre auf diesen Ortswechsel gedrängt. Ihre Zweisamkeit war für ihr Empfinden zunehmend von Unsicherheit geprägt; was die Zukunft bringen würde, mochte sie sich lieber gar nicht vorstellen. Also – raus aus dem großzügigen 11-Zimmer-Chalet in ein etwas kleineres Appartement mit lediglich noch fünf Räumen … in ein so genanntes Mehrgenerationenhaus mit angeschlossenem Pflegetrakt. Eine, allerdings winzige, 2-Zimmer-Wohnung – diese grenzte direkt an ihre an, hatten sie zusätzlich angemietet – aus gutem Grund, wie sie ihren wenigen noch verbliebenen Freunden mit Blick auf den Gesundheitszustand ihres Mannes verriet; Anne nannte sie deshalb auch schlicht „unsere Dienstbotenwohnung“.

Dass ihr neues Zuhause dem Vergleich zu früher nicht standhielt, das zu akzeptieren war ihr reichlich schwergefallen. Doch hatten es andere sicherlich weitaus schwerer gehabt, tröstete sie sich dann manchmal und dachte dabei an die frühen Auswanderer, wie die damals ihre Heimat verließen. Anne stellte sich dann immer vor, wie die damals, lediglich mit einem kleinen Koffer in der Hand, die Schiffsleiter des Auswandererdampfers hinaufstiegen, sich möglicherweise gar noch mit kleinen Kindern an der Hand diesem Schiff auslieferten. Neben den wichtigen, an den Leib gebundenen Dokumenten hatten sie in ihrem kargen Gepäck vor allem eines: Die Zuversicht auf das kommende, erfüllte Leben … und daran glaubten sie fest – und das machte sie glücklich.

Zuversicht? Nein. Ausgeliefert? Ja! Genauso fühlte sich Anne bei diesen Gedanken. Anders jedoch als jene wild entschlossenen Auswanderer übten sie und ihr Mann Frank sich gerade erst noch darin, sich treiben zu lassen; für sich einen Weg zu finden, mit ihren widersprüchlichen Gefühlen umzugehen. … Befanden sich noch ganz am Anfang ihres neuen Lebensabschnitts – in der Lernphase sozusagen. Ja, sie wollten ihn in Angriff nehmen … ganz sicher. „Was bleibt uns – bleibt mir – auch anderes übrig“, murmelte Anne mit einer Mischung aus Bitternis und Tragik vor sich hin. Möglich, dass in ihrem neuen Refugium tatsächlich noch ein paar glückliche Jahre zu erwarten waren. Doch musste sie sich schon gewaltig zwingen, daran zu glauben.

***

Sei nicht ungerecht, schalt sie sich, kaum dass Zweifel und Misstrauen sich wie ein diffuser Nebel in ihrem Kopf eingenistet hatten. Schließlich habe ihnen beiden das Leben den roten Teppich ausgerollt, ihm, dem späteren Professor für Kunst und ihr, der gefeierten Cellistin – damals. Nun gut, ihre eigene Kariere hatte ein abruptes Ende genommen, seit jenem tragischen Sturz von ihrem Lieblingspferd. Jahrelang hatte sie sich schwerwiegenden Operationen an der Wirbelsäule unterziehen müssen … war fast am Leben verzweifelt. „Ich lasse dich nie allein … niemals – egal, was kommen mag“, hatte er ihr einmal ins Ohr geflüstert, als sie noch eingegipst wochenlang auf der Intensivstation lag und Computer noch über Wochen und Monate ihre Hirnströme überwachten. Frank jedoch war in dieser Zeit nie von ihrer Seite gewichen – hatte alles für sie getan. Wie glücklich waren sie beide gewesen, als das Blatt sich tatsächlich noch einmal gewendet und ihr ein zweites Leben geschenkt hatte – nach Jahren des Hoffens und Bangens.

Und es ging danach tatsächlich weiter … weiter – und immer weiter bergauf … fast so, als ob nie etwas geschehen wäre. Ja, es war wie ein Wunder. Die lange Zeit, in der sie nicht mehr auf Reisen hatten gehen können, holten sie jetzt nach. Auch in seinem Beruf, den er in jener schlimmen Zeit hintangestellt hatte, konnte er an die früheren Erfolge anknüpfen. Seine neuen Werke, die er teilweise noch an ihrem Krankenbett zu Dutzenden entworfen und skizziert hatte, machten ihn international bekannt und berühmt und erzielten auf dem Markt Höchstpreise.

Sein Erfolg wirkte auf sie jedoch in keiner Weise ansteckend. Jeder Versuch, sie an ihr großes Talent als Cellistin zu erinnern, scheiterte – ihr war einfach die Energie (und möglicherweise auch der Wille) abhandengekommen. Und außerdem – wenn sie beide ihre Karriere weiterverfolgt hätten, dann wären sie doch immer wieder getrennt worden, hätten sich vielleicht tage- oder gar wochenlang nicht gesehen. Möglicherweise hätte das auch ihre Ehe gar nicht ausgehalten. Kinder? Nein, für Gedanken in diese Richtung hatten sie niemals Zeit gehabt. Kinder hätten sie doch nur gestört und wären wahrscheinlich sehr unglücklich aufgewachsen – weil keines ihrer Elternteile genügend Zeit für sie gehabt hätte. Selbst nach jenen fünf Jahren, als nach Unfall und Genesung ihr zweites Leben begann und sie noch die Chance dazu gehabt hätten, war eine solche Vorstellung viel zu weit von ihrer damaligen Lebenswirklichkeit entfernt gewesen … erschien ihnen geradezu absurd. Nein, die Umstände waren einfach nicht danach.

***

„Haben Sie mir auch sämtliche Schlüssel der Wohnung gegeben?“. Anne war verwirrt, schaute den dicken Mann – für sie ein Prolet wie aus dem Bilderbuch -, dessen Namen sie sich nicht merken konnte … nicht merken wollte, unwirsch an. Sicher – er war jetzt Eigentümer ihres kleinen Paradieses geworden, in dem sie ihr halbes Leben verbracht hatten, aber das berechtigte ihn in Annes Augen längst nicht dazu, sie derart taktlos anzugehen.

„Sie wissen schon, wen Sie vor sich haben …?“, fuhr sie ihn an – um sich noch im selben Moment für ihre Unbeherrschtheit zu rügen. Der Gesellschaft dieses Emporkömmlings, der sich ihre schöne Wohnung wahrscheinlich auch nur dank eines großzügigen Kredits hatte leisten können, wollte sie so rasch wie möglich entfliehen. Doch weil die letzte Rate des siebenstelligen Betrags noch nicht eingegangen war, wollte sie diesen, ihrem Empfinden nach Neureichen, denn doch nicht allzu sehr vor den Kopf stoßen. So schickte sie noch in etwas gemäßigterem Ton hinterdrein: „Sie wissen doch, mein Lieber – alles braucht seine Zeit … . Wann, meinten Sie, wäre die noch offene Summe wohl auf meinem Konto?“

Offensichtlich ein wenig perplex und wohl auch verunsichert beeilte sich ihr Gegenüber, ihr zu versichern, dass dies nur noch eine Sache von Tagen, „wahrscheinlich nur von Stunden“, sei. Und außerdem habe noch niemand jemals an seiner Seriosität zweifeln müssen. Sie nahm es lächelnd zur Kenntnis; meinte nur abschließend noch leicht unterkühlt: „À bientôt, monsieur … dann bis bald!“.

Ihren Mann hatte Anne zur Wohnungsübergabe ganz bewusst nicht mitgenommen … hatte ihn draußen in ihrer Limousine gelassen. Nein, wo sie auftrat, wollte sie gesellschaftliches Selbstbewusstsein demonstrieren – und nicht auf das Mitleid anderer – noch dazu von irgendwelchen Fremden – angewiesen sein. Dort, in den edlen, weichen Lederpolstern war ihr Gatte bestens aufgehoben. Und in der Gesellschaft der jungen Dame, die sie vor kurzem für ihn engagiert hatte, fühlte er sich offenkundig sehr wohl. Hauptsache, es geht ihm gut, dachte sie. So, wie er einst für sie dagewesen war, als ihr Leben lange Zeit auf der Kippe gestanden hatte, war es jetzt wohl an der Zeit, ihm etwas zurückzugeben.

Jemanden für ihn zu finden, der ihn bei seinen alltäglichen Verrichtungen unterstützte, war unumgänglich gewesen. Die Suche danach hatte sie sich allerdings schon etwas leichter vorgestellt. „Haben Sie denn wenigstens einen Führerschein?“, hatte sie, schon halb verzweifelt die Frau, die sich Elke Rippenstein nannte, zum Schluss noch gefragt. „Ja, gerade gemacht“, hatte die etwas zögerlich gemeint. Hätte sie bei den Fragen nach ihren Qualifikationen auch das noch verneint, dann … ja, dann hätte Anne auch nicht weitergewusst. „Also – versuchen wir es miteinander“, hatte sie abschließend noch gemeint und dabei an das Sprichwort vom „Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach“ denken müssen. Fast wäre sie zusammengezuckt, als sie sich noch die Hände reichten … eine harte, knochige, gefühllose Hand, musste Anne denken.

Doch irgendwie passte für sie auch das in ihr Bild einer Notarsgehilfin. Und überhaupt hatten sie ja erst über deren berufliche Tätigkeit zueinander gefunden. Äußerst positiv war sie Anne aufgefallen, als sie sich zusammen mit Frank die ausgetretenen, steilen Stufen der alteingesessenen Kanzlei hinaufgemüht hatten, um sich aus berufenem Munde über einige erbrechtliche Dinge zu informieren. Denn kaum hatten sie geläutet, da war sie regelrecht herbeigestürmt, um ihrem Mann behilflich zu sein. Anne vermutete, dass irgendwo im Eingangsbereich eine Videokamera hing. Hinterher, also nach dem Gespräch mit dem Notar hatte sie ihnen im Vorzimmer auch noch überaus freundlich in die Mäntel geholfen.

„Na, Sie hätten auch etwas Besseres verdient, als hier das Mädchen für alles zu spielen“, hatte Anne beim Hinausgehen zu ihr gemeint. „Danke, das ist sehr nett von Ihnen … doch findet man heutzutage nur noch schwer einen verlässlichen Arbeitgeber“, war die wohl gesetzte Antwort. Das wiederum hatte Anne so beeindruckt, dass sie der jungen Dame ihre Visitenkarte mit den Worten gab, „rufen Sie uns doch einmal an. Ich wüsste da vielleicht etwas für Sie.“

Und so kam es, dass Elke Rippenstein kurzerhand zur Pflegerin für ihren Mann avancierte – obwohl sie aus Annes Sicht nicht gerade die besten Voraussetzungen hierfür mitbrachte. Was hatte der Notar doch gleich noch zu ihr gesagt, als sie die junge Frau zu deren Abschlussgespräch zu ihrem alten Arbeitgeber begleitete: „Ich habe ihr vieles beigebracht.“ … Und er lächelte vielsagend dabei. Doch hatte Anne da nur noch mit halbem Ohr zugehört. Sie war einfach nur noch dankbar, dass ihr eine große Bürde von den Schultern genommen war. Auch hatte sie weder Zeit noch Nerven gehabt, sich großartig nach jemand besser Qualifiziertem für ihren Mann umzusehen. Hauptsache, die beiden vertrugen sich.

Anne beglückwünschte sich für ihre Weitsichtigkeit, die sie dazu gebracht hatte, zusätzlich diese kleine Dienstbotenwohnung anzumieten. Das „Ripplein“, wie sie die Pflegerin nach einiger Zeit nur noch nannte, hatte inzwischen auch das neue Zuhause dankbar angenommen. Immer öfter jedoch stellte Anne fest, dass, wenn sie nach Hause kam, ihr Ehemann in seinem Elektrorollstuhl, den sie ihm extra besorgt hatte, aus der Dienstbotenwohnung herangerollt kam, um sie zu begrüßen.

„Was machst du da?“, hatte sie Frank einmal zur Rede gestellt. „Mir ist eben oft langweilig“, kam dann zurück. „Und – was macht ihr dann … in meiner Abwesenheit? …“. „Wir sehen gemeinsam fern; und außerdem kocht sie auch gelegentlich für mich.“ „Aber ich habe doch extra einen guten – und sündhaft teuren – Essen-auf-Rädern-Service für dich angeheuert, Frank!“

Ihr Mann nickte dann zwar schuldbewusst – am Ende änderte sich an seinem, für sie merkwürdigen Verhalten jedoch nichts. Mit der Zeit fiel ihr auf, dass sie immer häufiger auf ihren – deutlich kleineren – Zweitwagen zurückgreifen musste, weil die beiden mit ihrer weitaus komfortableren und größeren Luxuslimousine unterwegs waren … irgendeine Spritztour machten. Von diesen Ausflügen kam Frank dann immer mit glänzenden Augen nach Hause. Allerdings wusste er nie viel von seinen Erlebnissen zu erzählen. Das wiederum schob sie auf seine zunehmende Demenz.

„Wir müssen uns damit abfinden“, beschwichtigte ihr Hausarzt, wenn sie diesen zusammen mit Frank gelegentlich aufsuchte und ihn mit den Veränderungen, die sie als immer bedrohlicher empfand, konfrontierte. Jüngst vertraute sie ihm an, dass, als sie einmal frühzeitig von einer Shoppingtour zurückkam, sie die nur angelehnte Tür der Dienstbotenwohnung aufgestoßen hatte und eingetreten war. Da lag ihr Einzug gerade mal ein paar Wochen zurück.

„Eigentlich bin ich ja nicht neugierig, verehrter Dr. Katz. Doch was ich da auf dem Boden liegend vorfand, das hat mich doch einigermaßen in Rage gebracht. Es war die erste Seite eines notariellen Dokumentes … mit anhängender Rechnung – und zwar des Notars, bei dem das Ripplein zuletzt angestellt war. Darin wurde Bezug genommen auf einen Vertrag zwischen meinem Mann und mir … von einem derartigen Vertrag weiß ich jedoch nichts. Ich wurde nicht schlau aus dem Ganzen. Natürlich konnte ich Franks Pflegerin deswegen schlecht zur Rede stellen … es waren ja schließlich ihre Privaträume, in denen ich herumgeschnüffelt hatte. Ich hoffe nur, dass sie – schließlich kennt sie sich in Notariatsangelegenheiten vorzüglich aus – nicht etwas austüftelt, was meinem Mann und mir langfristig schaden könnte. Er scheint mir mittlerweile fast wie Wachs in ihren knochigen, kalten Händen … und das schon nach dieser kurzen Zeit. …“

„Sprechen Sie doch einfach mit ihm, liebe Anne!“, forderte sie der Arzt, dem sie leidtat, freundlich auf. Sie nickte zwar, dachte aber bei sich, dass das völlig zwecklos sein würde. Auch müsste das ihr Arzt, den sie beide schon fast ein halbes Leben lang immer mal wieder konsultierten, das auch selbst wissen.

***

Sie schreckte auf … schweißgebadet. Schaute auf den Kalender neben ihrem Bett. … Es musste sein – jetzt!

„Weißt du eigentlich, Frank,“ meinte sie hernach am Frühstückstisch, „dass wir jetzt exakt 22 Tage in unserem neuen Zuhause wohnen? … Ob das eine gute Entscheidung von uns war? Es gibt Tage, da zweifle ich daran und überlege, ob wir beide nicht woanders hinziehen sollten … in eine andere Stadt – und in eine andere Wohnung … . Wo wir mehr unter uns sind – wenn du verstehst, was ich meine … . Und? Wie denkst du darüber?“. Liebevoll ergriff sie seine welke Hand.

„Ich werde mit Elke darüber sprechen … Anne.“

Anne blieb die Spucke weg. Empört entzog sie ihm ihre Hand … sprang auf. „Du willst mit WEM darüber reden? Mit deiner Pflegerin? Über Dinge, die ausschließlich uns beide etwas angehen? Frank – ich bitte dich!“. Annes Stimme hatte einen schrillen Ton angenommen. Auch war ihr plötzlich etwas schwindlig zumute … wohl der Kreislauf.

„Nehmen Sie es Ihrem Mann nicht übel.“ Ohne dass Anne es bemerkt hatte, war das Ripplein hereingekommen. An sich war das nicht verwunderlich, hatte sie doch natürlich auch einen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Nicht auszudenken, wenn Frank hier etwas zustieß und seine Pflegerin ihm mangels Schlüssel nicht zu Hilfe eilen konnte.

„Er ist manchmal etwas durcheinander“, fügte sie mit ruhiger, sachlicher Stimme hinzu. „Ich wollte gerade zu Ihnen kommen und Sie um Hilfe bitten. Mit dem Jaguar scheint etwas nicht in Ordnung zu sein … ich vermute, es ist etwas mit dem Auspuff. Haben Sie gerade etwas Zeit? Dann könnten wir kurz in die Garage gehen.“

Das Ripplein drehte sich um und ging. Anne blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Vielleicht konnte sie ihr ja bei dieser Gelegenheit wegen des notariellen Schriftstücks auf den Zahn fühlen.

„Warten Sie … ich fahre den Wagen ein wenig aus der Garage heraus. Ich lasse dann den Motor laufen, steige aus und wir können gemeinsam nachschauen, ob uns etwas auffällt … ja?“. Anne zuckte nur leicht mit den Schultern. Sie ging nach hinten, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. „Sie sollten besser niederknien … dann können sie besser sehen. Nicht erschrecken – ich gebe jetzt ein bisschen Gas.“

Anne tat, wie ihr geheißen; wobei sie wieder dieser Schwindel packte. Sie wollte aufstehen, schaffte es aber nicht ganz. Als die Garage ein paar Stunden später geöffnet wurde, fand man ihren Körper nahezu unversehrt an derselben Stelle, an der sie sich niedergekniet hatte. Nur ihr Hals war zerquetscht … der Kehlkopf eingedrückt. Das Ripplein war wohl beim Rückwärtsfahren mit dem Fuß von der Kupplung abgerutscht.