Shortstory von Guido Sawatzki
Hübsch war sie, fand er … sogar auffallend hübsch. Doch kaum hatte er diesen Gedanken (zu seiner eigenen Überraschung) zugelassen, korrigierte er sich auch schon wieder. Insgeheim machte er sich sogar Vorwürfe. Man müsse da differenzieren … denn mit der Verwendung des Prädikats „auffallend hübsch“ lief er Gefahr, Vorurteile zu bedienen – insbesondere mit der Ergänzung „auffallend“. Indem er sie als „auffallend“ beschrieb, meinte er damit einfach nur ihre natürliche Art, die ihr Wesen erblühen ließ … es zum Strahlen brachte. Nein, nein – es sollte jetzt keineswegs der Eindruck entstehen, dass er glaubte, sich verteidigen zu müssen … nein. Seine „Erklärung“ oder Ergänzung hatte er einfach nur in der Absicht abgegeben, etwas klarzustellen – nicht mehr und nicht weniger. Selbstverständlich wollte er seine Anmerkung auch nicht als übertrieben oder gar typisch männlich verstanden wissen.
Seiner Meinung nach kam ihr Aussehen, also die äußerlichen, für einen Mann nicht unwesentlichen Merkmale einer Frau wie Beine, Busen et cetera, ohnehin frühestens an zweiter Stelle … hatte in der Gesamtbeurteilung ihrer Persönlichkeit eigentlich gar nichts zu suchen, wenn er es recht bedachte.
Hmm … braunes, schweres Haar – warum machte ihn das immer so verdammt an? Nun, er stand einfach drauf, da konnte eine Frau seinetwegen abgrundtief hässlich sein – aber wenn ihm ein zweibeiniges Wesen mit einer solchen Mähne über den Weg lief, gab es für ihn kein Halten mehr. Ungewöhnlich, überlegte er, war allerdings ihr Mittelscheitel … das ließ sie fast schon wieder bieder erscheinen. War vielleicht gerade das der Grund, weshalb ihn ausgerechnet diese Frau so anmachte?! Und dann ihre Augen … so betont gleichgültig und ausdruckslos – wie die Augen eines Raubfisches. Vielleicht reizte ihn auch gerade das so an ihr. Jedenfalls sagte ihm sein Instinkt, dass sie ein echtes Satansweib sein konnte … vor allem im Bett – wenn er sie erstmal soweit hatte.
Er war überzeugt davon, dass sie seine Blicke gespürt hatte; sogar lange bevor er an der Reihe war. Sein Puls schnellte in die Höhe, als er schließlich vor ihr stand. Spätestens in dem Moment, als sie nach seiner Versichertenkarte fragte, stand sein Entschluss fest – er wollte nicht als schnöde Nummer im Patienteneinerlei verschwinden … als Gleicher unter Gleichen; wollte nicht als x-beliebiger Patient behandelt werden … jedenfalls nicht von ihr. Vielmehr sollte sie ihn bewusst wahrnehmen – und nicht nur abfertigen. Sollte spüren, dass er anders war – ja, etwas Besonderes.
Seine Gedanken wurden von ihr brüsk unterbrochen, als sie ihm einen Wust bedruckten Papiers entgegenhielt. „Würden Sie dann bitte so nett sein und anschließend auf diesen Formblättern die Fragen beantworten?“. Er beugte sich weit nach vorn – dies jedoch weniger aus Interesse für ihre Formulare. Vielmehr suchte er den Kontakt … nach Möglichkeit auch den Körperkontakt – letzteres selbstverständlich so dezent und unaufdringlich wie möglich. Sie sollte nur merken, dass er ihr nah sein und sie spüren wollte. Deshalb nahm er die Unterlagen auch so entgegen, dass seine ausgestreckten Finger dabei wie zufällig an ihrem Arm entlangstrichen – ganz sachte. „Oh pardon“, entschuldigte er sich der Form halber; schließlich sollte der Schein gewahrt werden. Zufrieden registrierte er ihre leichte Gänsehaut, die allein von seiner Berührung gekommen sein konnte. Er fühlte sich wie im Rausch.
„Diese Haut …“, dachte er dabei, „wie sanft und anschmiegsam sie sich doch anfühlt …“. Er spürte, wie unbändige Lust in ihm hochstieg und die Erregung in seinen Schläfen pochte.
Seine ungewöhnlich lange Kontaktaufnahme musste sie auf jeden Fall überrascht haben – so etwas kam in dieser Praxis sicher nicht häufig vor. Ihr Arm zuckte reflexartig zurück, wohl um ihm keine weitere Gelegenheit zu geben, sie zu berühren. Es lag auch für sie vollkommen klar auf der Hand, dass dies ein Annäherungsversuch war … und sie dachte sich jetzt ihren Teil. Sicherlich lag ihr auch daran, dass Außenstehende nichts davon mitbekamen – zumal hier, in der Praxis, im Normalfall nichts verborgen blieb.
Wohl auch deshalb glaubte er, in ihren dunklen, beinahe tiefschwarzen Augen außer Verwunderung ein bisschen Angst zu erkennen. Aber da war noch etwas anderes – etwas, das in die Tiefe ging … möglicherweise weit über einen „zufälligen“ Hautkontakt hinaus. In ihm pulsierte es. Schwindel erfasste ihn, als er sich vorstellte, wo überall ihre schlanke Hand ihn berühren und was sie alles mit ihm anstellen würde.
Sein Hals fühlte sich rau und eng an – er räusperte sich: „Wenn ich als Privatpatient zu Ihnen komme, muss ich dann diese Papiere auch ausfüllen?“. „Nun, für diesen Fall haben wir hinten unser kleines Wartezimmer für Privatpatienten“, erklärte sie ihm und deutete mit ihrem Arm in die Richtung – wobei dieser, natürlich auch rein zufällig, fast seine Lippen berührt hätte. Selbst in diesen Sekundenbruchteilen glaubte er, ihre Wärme zu spüren. Dieser Duft, diese Haut, musste er denken. Alles in ihm vibrierte.
„Und – darf ich Ihnen behilflich sein?“ Aus ihrer Stimme vermeinte er jetzt fast einen unterwürfigen Ton herauszuhören. Dabei schaute sie ihn an. Ihre Augen hatten sich verengt … fixierten ihn auf eine sinnliche Art, die sein Blut zum Kochen brachte. Oh ja – jetzt war er ganz sicher, dass sie beide dasselbe wollten.
Sie deutete auf eine Tür mit einem kleinen Schild ziemlich weit hinten im Gang. Was darauf stand, konnte er aus dieser Entfernung nicht entziffern … „Und – möchten Sie?“. Dabei schaute sie ihn an und er war sich hundertprozentig sicher, dass SIE ganz bestimmt „wollte“ … wahrscheinlich jetzt, genau in diesem Moment dieselben Gefühle hatte wie er. Verblüfft registrierte er auch, dass ihre Stimme jetzt einen anderen Klang hatte – klarer war … nicht mehr scheu und vor allem längst nicht mehr zurückhaltend wie gerade eben noch. Sexy? Auf jeden Fall … Unglaublich sexy! Es passte einfach alles … musste passen. Anderes kam nicht mehr infrage. Eine Täuschung war nicht mehr möglich. Er musste einfach Recht behalten!
„Kommen Sie!“. Sie hatte sich hinter ihrer Glasscheibe erhoben, kam aus ihrer Box heraus und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Ihre Bewegungen waren dabei sowohl marionettenhaft als auch aufreizend – fast so, als ob sie einem inneren Zwang folgen müsste. Er hielt die Formulare noch in der Hand, wusste nicht, was er damit anfangen sollte … fühlte sich irgendwie hilflos. Sie drehte sich um, wohl weil sie hinter sich keine Schritte hörte. „Lassen Sie einfach alles liegen … einfach liegenlassen!“, rief sie und lächelte ihn dabei vielsagend an. Beim Weitergehen registrierte er die verwunderten Blicke der Wartenden. Die hatten jetzt sicher den Eindruck, dass er ihnen vorgezogen worden war – was ja eigentlich auch stimmte. Dass einem wie ihm der rote Teppich ausgerollt wurde, dafür musste es ja einen Grund geben. Eine schon etwas ältere Patientin, die seine Gedanken möglicherweise erraten hatte, schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und raunte ihm zu, „Zögern Sie nicht, junger Mann“. Derart angespornt, beeilte er sich, seiner braunhaarigen Schönheit zu folgen. Er war gespannt.
„Ja?!“ … . Sie ließ ihm keine Zeit, er konnte gerade noch die Tür hinter sich abschließen, als ihre Lippen seinen Mund mit einer Gier umschlangen, wie er sie nie zuvor bei einer Frau erlebt hatte, ihre Finger rissen an seinem Gürtel, zogen den Reißverschluss seiner Hose auf, ihre Hand griff unter seinen Slip – und das Ganze in einem atemberaubenden Tempo! Vor Erregung keuchend vermochte er lediglich zwei Knöpfe ihrer scharlachroten, auf dem schmalen Kragen mit ihrem Vornamen bestickten Bluse zu öffnen, um sie ihr anschließend über den Kopf zu zerren … alles stand offensichtlich unter dem Zwang, schnell gehen zu müssen. Gewiss wären noch einige der Knöpfe hierbei abgerissen, wenn sie ihm nicht geholfen hätte. Auch ihr BH, der sich nach vorne öffnen ließ, bereitete ihm offensichtlich Probleme. Von hemmungsloser Gier gepackt – denn er wollte sie endlich spüren … überall und sofort (!) – hätte er fast noch den Vorderverschluss verbogen. „Ein wenig ungeübt?“. Mit einem fast ausgelassenen Lachen kommentierte sie seine hilflos wirkenden Versuche. Immerhin hatte er es noch geschafft, mit leicht zittrigen Händen den seitlichen Reißverschluss ihres straff sitzenden Rocks aufzuziehen.
Endlich, dachte er, als sie inmitten der auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke sich zum ersten Mal spürten … sich aneinander pressten, die Finger sich wie Klauen fast verzweifelt in das Fleisch des anderen krallten – das Ganze mit einer an Irrsinn grenzenden Heftigkeit, die sie beide sicher niemals würden erklären können … wenn sie denn dazu überhaupt in der Lage gewesen wären. Jedwedes Denken, auch nur der kleinste Ansatz, zu verstehen, was da gerade ablief, hatte in diesen Minuten keinerlei Chance … ein Zustand, bei dem sich ausschließlich alles um das EINE drehte: Das Verlangen nach dem anderen Geschlecht auszuleben, spüren, wie Haut an Haut sich rieb, wie ihre Münder den jeweils anderen zu erkunden suchten … überall. Erst ganz allmählich vermochten sie, sanfter miteinander umzugehen. Als seine Hände dann irgendwann unendlich langsam und zärtlich über ihre schweißnasse Haut strichen, meinte sie erneut vor Lust beinahe zu bersten. Sie konnte nicht anders, warf sich über ihn, setzte sich auf ihn, ihre Begierde erlaubte keine Zwischenstopps; immer wieder biss sie sich mit den Zähnen ganz fest in die Lippen, um nicht wild herauszuschreien.
Die Zeiger der großen Wanduhr über ihnen zeigte bereits viertel nach acht, als sie das erste Mal voneinander abließen … vollkommen erschöpft und aufgelöst. Bauch, Hals und Oberschenkel zeigten unverkennbare Spuren … legten Zeugnis ab von ihrer grenzenlosen Begierde und hemmungslosen Lust aufeinander, die weder Raum noch Zeit kannte. Als sie einmal kurz zur Seite schaute und die feuchten Flecken auf den Kleidungsstücken sah, explodierte die Lust in ihr ein weiteres Mal und ihre Hände umklammerten stöhnend den Körper neben, auf und unter sich … immer und immer wieder … .
Später würde sie sich noch erinnern, dass sie irgendwie verwundert darüber war, dass niemand an die Tür geklopft hatte; was spätestens gegen sieben hätte passieren müssen. Dann nämlich hatte das Personal in der Regel sämtliche Systeme ausgeschaltet, das Licht gelöscht und das zentrale Schließsystem aktiviert. Doch nichts Derartiges war seltsamerweise geschehen. Vermutlich hatte der Chef alle Kolleginnen nach Hause geschickt, nachdem sämtliche Patienten abgefertigt worden waren – zumal auch der Praxisurlaub vor der Tür stand.
Egal. Offenbar war heute ihr Glückstag – und den würde sie voll auskosten. Sie wusste natürlich, dass in diesem Zimmer auch ausgewählte Getränke für Privatpatienten aufbewahrt wurden, um ihnen die Wartezeit zu verkürzen. Sie köpfte gleich die Flasche mit dem Whisky, den ihr Chef vor einiger Zeit von einer so genannten Bildungsreise nach Schottland mitgebracht hatte und schenkte zwei Gläser davon randvoll ein. Als dabei etwas danebenging und ihm die Brust hinunterlief, saugten ihre vollen Lippen jeden Tropfen von seinem Körper begierig auf. Sein Stöhnen und seine verlangenden Hände erwiderte sie mit nahezu besinnungsloser Hingabe.
Es war wohl gegen Mitternacht, als sie aus einem kurzen Erschöpfungsschlaf – sie war irgendwann zusammengesunken; hatte sich halbtot gefühlt – wieder erwachte. Alles still. Sie betrachtete den Körper neben sich. Er lag auf der Seite … weggedreht von ihr. Auch sie rollte sich jetzt ein wenig weg von ihm. Er roch irgendwie kalt; plötzlich war ihr diese Nähe unangenehm. Ihr fiel ein, dass heute Freitag war – dann hatten sie Betriebsurlaub.
Auch er lag schon geraume Zeit wach, hielt die Augen aber noch geschlossen. Das Denken hatte in ihm wieder Raum gewonnen. War das nun Hausfriedensbruch, den er da begangen hatte … also nachdem die Praxis verschlossen worden war? Der Jurist in ihm war in diesem Punkt uneins mit sich selbst. Ihm war nur eines klar: Er konnte sich keinen Zentimeter mehr bewegen … fühlte sich wie ausgewunden. Er war sich sicher, dass er einige Zeit brauchen würde, um das Erlebte zu verarbeiten. Vor allem – wie sollte er seiner Frau gegenübertreten …? Ach so – sie war ja gar nicht mehr da … hatte vor ein paar Tagen zwei große Koffer gepackt; war zu ihrer Mutter gezogen. „Vorübergehend“, bis er sich wieder eingekriegt habe – hatte sie gemeint. Dabei war er doch nur ein wenig liebesbedürftig gewesen; na gut, ein bisschen mehr als sonst … kein Wunder nach all dem Ärger in der Verwaltung. Ihr großartig davon zu erzählen, hätte auch nichts genützt – sie hatte sich ja nie um seinen Beruf gekümmert … also, was soll’s?!
Doch ohne diese Situation, diese Konstellation, wäre das gerade eben nicht möglich gewesen … überhaupt nicht! Sich so gehenzulassen, sich dabei geradezu aufzugeben … seine Persönlichkeit über Bord zu werfen – vergessen, wer man war … ja, geradezu animalische Instinkte zu entwickeln … puuh!
Sowie sie bemerkte, dass er sich zu regen begann, sog sie instinktiv ihren Slip an … streifte sich rasch die Bluse über, stopfte sie sich in den Rock … so gut es eben ging. Innerlich bebte sie schon noch etwas, wohl auch deshalb wirkten ihre Bewegungen etwas fahrig.
Er war aufgestanden, sah ihr zu. Seine Blicke waren ihr jetzt unangenehm; doch schien er es nicht zu bemerken. So verständnisvoll, wie er vorher noch mit ihr, ihrem Körper, umgegangen war, so plump und irgendwie anmaßend – dieses Gefühl hatte sie zumindest – stand er ihr jetzt gegenüber. „Können wir uns wiedersehen …?“, fragte er etwas linkisch. Abgedroschene Sätze wie dieser versetzten sie in Weißglut. Nein, solche Männer konnte sie nicht brauchen – die waren ihr regelrecht zuwider. Sag jetzt nichts – halt den Mund, befahl sie sich im Stillen. Immerhin brachte sie es fertig, ihn charmant anzulächeln und zu säuseln: „Vielleicht …? Den siebten Himmel haben wir immerhin schon hinter uns.“
„Wo ist …?“ begann er zu fragen – doch da hatte sie schon grinsend seine Unterhose aus ihrem Rock gepult. „Na, wie die da wohl hingekommen ist?“, versuchte er auf sie einzugehen. Als sie bemerkte, dass er im Begriff stand, nackt wie er war, auf sie zuzugehen – nicht undenkbar, dass er sogar noch mehr wollte -, fand sie es an der Zeit, ihn zu bremsen. „Hast du meinen BH gesehen?“, unterbrach sie ihn. „Ääh … ich glaube, dort drüben, direkt neben Eurem vorsintflutlichen Müllschlucker“, sagte er und verschluckte sich fast vor Lachen. „Hoffentlich riecht er jetzt nicht danach“, fügte er noch hinzu. Gefühllos wie ein Hackklotz, dachte sie. Mein BH ist kein Müll, ist es niemals gewesen, Müll bist eher du – wollte sie ihm schon an den Kopf werfen.
„Du redest irgendwie Müll … meinst du nicht auch?“ – das musste sie denn doch loswerden. Sie sah, wie er sich versteifte. Sie schlängelte sich an ihm vorbei, passte auf, ihn ja nicht zu berühren – als es passierte. Mit brutaler Wucht erwischte sie der unerwartete Fausthieb … direkt an der Schläfe.
Sie hatte noch nicht den Boden berührt, als er, total verblüfft ob seiner Reaktion und zugleich erschüttert über sich selbst, im letzten Moment noch versuchte, den fallenden Körper irgendwie aufzufangen. … Was war mit ihm geschehen, was hatte ihn so verändert, dass er jetzt derart überreagierte? Erst vorher diese, schon fast gewalttätig anmutende Sexorgie mit einer, ihm eigentlich unbekannten Frau … und nun dieses brutale Zuschlagen.
Er hörte sie stöhnen. Gott sei Dank ist sie nicht tot, war sein erster Gedanke. Es konnte also noch alles gutwerden. Er musste einen Weg finden, es durfte so nicht weitergehen mit ihm. Er kannte sich selbst nicht mehr wieder. Die vergangenen Wochen und Monate voller unterdrückter Wut und Enttäuschungen hatten ihn verändert … ihn zu einem regelrechten Monster werden lassen. Jetzt musste etwas passieren. Völlig fertig setzte er sich auf einen Bürostuhl, lehnte sich erschöpft nach vorne … kippte vom Stuhl.
Es war einfach zu viel gewesen … die Aufregung.
*
„Finden Sie nicht auch, dass es hier etwas streng riecht?“
„Wie kommen Sie denn darauf?“ meinte die Arzthelferin, als die ältere Dame sie ansprach. „Also ich finde, dass es hier so wie immer riecht. Vielleicht kommt das ja noch von den abgelaufenen Medikamenten, die wir hier immer in einem separaten Raum lagern, bis sie zur Entsorgung abgeholt werden … der Geruch hält sich eben noch ein bisschen hartnäckig in der Luft. Und natürlich verwendet unser Reinigungspersonal auch Desinfektionsmittel, die gelegentlich ziemlich streng riechen.“
*
„Wenn Sie meine Meinung hören möchten, dann wird hier einfach zu wenig gelüftet. Ich war vor ein paar Wochen schon einmal hier, kurz bevor die Ferien anfingen. Da hat es auch stark gemuffelt. Ich verstehe ja, dass die Mitarbeiterinnen genug anderes an der Backe haben und gute Luft dann zweitrangig ist. Aber wie es ihren Patienten dabei geht, daran sollten die bitteschön auch mal denken! Im Übrigen kommt dieser penetrante Geruch meiner Ansicht nach aus dem einen Zimmer da hinten, am Ende des Flurs. Zumindest diesen Raum sollten die doch mal kräftig lüften.“
Die durchaus plausibel klingenden Bemerkungen der älteren Dame, die zumindest anfangs noch einen Dialog zu diesem anrüchigen Thema mit ihrer ebenfalls schon betagten Sitznachbarin zur Linken zu führen schien, verhallten in dem langen, beidseitig bestuhlten und einigermaßen gut besetzten Flur der HNO-Arztpraxis ohne jede Resonanz. Und sofern andere Patienten doch etwas davon mitbekommen haben sollten, schien es offensichtlich keinen sonderlich zu interessieren; zumindest beteiligte sich niemand am Gespräch der beiden Damen. Die Arzthelferinnen hockten hinter ihren dicken Glasscheiben und bekamen ohnehin nicht viel von dem mit, was da zwischen den Patienten palavert wurde. Außerdem hätten sie derzeit sicherlich alle Hände voll zu tun, um ihren „Saustall“ wieder auf Vordermann zu bringen – hatte erst wenige Minuten zuvor noch ihr Chef, der werte Herr Dr. med. Stiefel herumgemeckert. Nach dreiwöchiger Betriebsruhe mit direkt anschließendem, landesweitem zweiwöchigem Streik sei es ja wohl an der Zeit, dass sein überdurchschnittlich bezahltes Personal gefälligst die Hufe schwinge, hatte der „Stinkstiefel“, wie er heimlich von seinen Mitarbeiterinnen genannt wurde, herumproletet. Als dann die ersten Patienten kamen, mimte er natürlich wieder den netten und allseits beliebten HNO-Arzt.
Zu den Altlasten gehörte unter anderem eine Krankenakte, die ihr Chef ihnen ohne Kommentar ganz oben auf den Stapel gelegt hatte. „Hattest du nicht diesen Typen damals in Empfang genommen, Betty? Du erinnerst Dich sicher … der sich wie Graf Koks vorkam und Dir schöne Augen machte? Den hattest Du doch kurz vor unserem Urlaub noch abgefertigt … oder?“ fragte die Kollegin, die mindestens schon so viele Jahre wie sie hier in der Praxis Dienst tat. Betty runzelte die Stirn. „Hmm … als so umwerfend hatte ich den damals sicher nicht empfunden, dass ich mich jetzt nicht mehr an ihn erinnere. Komm, zeig mir mal die Akte. … Ach ja, das war der, der sich privat behandeln lassen wollte. Ich hab‘ ihn dann in unser Wartezimmer für Private gesetzt. Was allerdings danach war, weiß ich nicht mehr. Das müsste eigentlich der Chef wissen. … Okay, ich werd‘ nachher mal bei ihm nachhaken. Aber erstmal kümmere ich mich noch um den Geruch – die alte Dame hier macht deswegen ja schon alle schalu. … Hältst du bitte solange die Stellung?“
Betty beglückwünschte sich insgeheim, damals den Schlüssel zu diesem Raum mitgenommen zu haben – ein zweiter existierte offenbar tatsächlich nicht – und da die Praxis ohnehin geschlossen war, gab es auch keinen Grund, das Zimmer zu betreten. Als sie sicher sein konnte, dass keiner sie beobachtete, schlüpfte sie rasch hinein.
Er saß noch genauso da, wie sie ihn vor fünf Wochen zurückgelassen hatte … in seinem schicken Anzug; nur dass sein Gesicht schon ziemlich verwelkt aussah. Das Ganze wirkte gerade so, als ob man ihn vergessen hätte. Mann-o-Mann, was war das damals für eine Kugelfuhr gewesen, ihn wieder einigermaßen korrekt anzukleiden … schweißgebadet war sie gewesen. Zwischendurch hatte sie immer mal wieder an jenen Abend zurückdenken müssen … und an ihn, der, bevor er ausrastete, so überaus zärtlich zu ihr war. Wer konnte denn schon ahnen, dass er Herzprobleme hatte?
„Dann woll’n wir mal.“ Sie hatte schon damals an den Kamin gedacht, der offenbar an das zentrale Heizungssystem angeschlossen war und die rund 20 Stockwerke des Ärztehauses versorgte; wollte aber noch abwarten – vielleicht würde er ja doch wieder zu sich kommen und um Hilfe rufen. Hmm … . Jetzt ist es zu spät, mein Junge, dachte sie bei sich. Sie schob ihn auf seinem bequemen Bürostuhl quer durch den Raum, hin zu dem Lüftungsschacht, der mit seiner riesigen Klappe quasi als Müllschlucker für ihr Vorhaben geradezu prädestiniert war.
„Na, alles im Griff, Betty?“, wurde sie von ihrer Kollegin empfangen. „Ein gottserbärmlicher Gestank war das in dem Zimmer, muss ich dir sagen … irgendjemand hatte in dem Raum wohl die Klimaanlage ausgeschaltet. … Was ist – machen wir Frühstückspause?“ Betty warf im Aufstehen ihr schweres, kastanienbraunes Haar nach hinten. „Wieso lässt du dich nicht endlich mal anders frisieren – zum Beispiel den Mittelscheitel wegmachen? Damit verschreckst du ja sämtliche Männer!“, meinte ihre Kollegin spitzbübisch und wackelte mit dem Po.
„Na und?“ Betty lächelte spitzbübisch. SIE kannte ihre Wirkung auf Männer inzwischen sehr genau.