Entsorgt

Shortstory von Guido Sawatzki

Es war wieder mal soweit. Schon allein, wenn sie vor dem heruntergekommenen Mietshaus stand und die Klingelarmada betrachtete, spürte sie einen fast unwiderstehlichen Brechreiz – so derart ekelerregend wirkten die provisorischen Namensschildchen auf sie … darüber hinaus konnte man sie kaum entziffern.  Dabei hatte sie diesen einen – seinen – schmierigen Klingelknopf in den letzten Jahren doch schon unendliche Male gedrückt. Einen eigenen Schlüssel? Läge nahe, doch den hatte er ihr aus fadenscheinigen Gründen immer wieder verwehrt; weil sie so vergesslich sei und schon mal einen verloren habe. Trotzdem. Sie hatte sich nie an den Dreck gewöhnen können. Und das Ende vom Lied war doch sowieso immer wieder das gleiche.

„Na, geht’s wieder?“. Nina hatte gerade die Wohnungstür hinter sich zugemacht – es schien ihr ohnehin ein kleines Wunder, dass er geöffnet hatte –, da hatte sie wieder das unbestimmte Gefühl, dass sich seit ihrem letzten Besuch nichts geändert hatte. Auch deshalb ließ sie ihre Stimme ganz bewusst gleichgültig klingen … wollte ihm keine Angriffsfläche bieten – kannte sie doch seine unvorhersehbaren Ausraster, wenn etwas nicht nach seinem Geschmack verlaufen war. Gerade noch rechtzeitig hatte sie das hasserfüllte Funkeln in seinen Augen bemerkt … kurz bevor er zuschlug. Diesmal erwischte er nur den Türrahmen – und nicht sie. Wimmernd vor Schmerzen hielt er sich seine Hand. „Gebrochen?“. Es sollte mitfühlend klingen. Doch brachte ihn das nur noch mehr in Rage. Blindwütig stürzte er sich trotz seiner Verletzung auf seine Frau, die bei dem Gerangel zu Boden ging. Sie strampelte mit den Beinen, wobei sie wohl mit einem ihrer spitzen Absätze mitten in sein Gesicht traf. Er brüllte wütend auf, ließ dann aber doch von ihr ab.

Nina rappelte sich auf. Voller Verachtung blickte sie auf das Bündel Mann, das sich zu ihren Füßen vor Schmerzen wand. Zu seinem Mangel an Selbstbeherrschung kam noch jene entsetzliche Dummheit, die sie bei niemandem ausstehen konnte und bei ihm geradezu abstoßend fand; denn sonst hätte ihm eigentlich schon längst klar sein müssen, dass ihr MMA-Kurs irgendwann Früchte tragen würde. Dieser Mix aus verschiedenen Kampfsportarten hatte nicht nur ihre körperliche Kraft und Geschicklichkeit, sondern auch ihr Selbstvertrauen erheblich gestärkt.

Die Folgen davon hatte er gerade hautnah zu spüren bekommen. Das Blut schoss aus seiner Nase gleichsam wie eine Fontäne und verteilte sich großflächig auf dem Fliesenboden. Hätte da noch der Teppichboden aus der Zeit vor der letzten Renovierung gelegen – für die Kosten war selbstverständlich mal wieder sie allein aufgekommen -, er wäre finanziell ruiniert gewesen.  

Sie hütete sich, ihm näher zu kommen, wollte die Situation nicht noch mehr eskalieren lassen … nicht riskieren, dass sein Jähzorn ihn nochmals explodieren ließ – mit womöglich noch schlimmeren Folgen für sie. Mehrere lange Narben waren Beweis genug, wie brutal er sein konnte … eine davon diagonal über ihrer linken Brust. Mit einer dicken Glasscherbe war er damals, nach einem seiner üblichen Sauf- und Kegelabende auf sie losgegangen. Mehrere Operationen hatte sie über sich ergehen lassen müssen … keine besonders lustige Angelegenheit. „Daran wird niemals mehr ein Kind seine Freude haben“, hatte der Arzt nur trocken bemerkt. Damals war sie knapp über 20. So eine Scheiße, dachte sie bei sich … aber besser eine als gar keine mehr.

*

Sie hatte ihn damals wieder mal verlassen, hielt es aber wie immer nur kurze Zeit ohne ihn aus. Natürlich war ihr klar, dass sie damit Opfer ihrer eigenen Schwäche wurde; und sie wusste auch von Frauen, die Liebe mit krankhafter Abhängigkeit verwechselten; mit denen jedoch, so meinte sie, habe sie nichts gemeinsam – aber sie ließ nun mal die Menschen nicht im Stich … vor allem, wenn sie glaubte, dass sie Hilfe nötig hatten, auch wenn es nach außen hin manchmal nicht so schien. Doch war sie gegen ihr Bauchgefühl einfach machtlos … entschuldigte sich damit immer im Nachhinein, wenn es am Ende wieder mal schiefging. „Ich möchte Sie mal nicht eines Tages in einer der Kisten hier liegen sehen“, hatte ihr Chef Armand – übrigens ein stämmiger Bretone – sie immer wieder gewarnt und sie geradezu beschworen, nicht wieder zu ihrem Mann zurückzukehren. Er hielt große Stücke auf Nina – schließlich fand man im Bestattungsgewerbe geeignete Kräfte nicht gerade um die Ecke.

Überhaupt war er sehr penibel. Als sie ihn einmal nach dem Grund gefragt hatte, weshalb er für seinen Beruf so schwärmte, meinte er bloß: „Wir Bretonen sind nun mal ein mit der Natur und ihren Elementen eng verbundenes Volk … und denken Sie mal nach – kennen Sie ein anderes Element als Feuer, das derart gründlich aufräumt und den Zeiger der Lebensuhr wieder auf Null stellt? Deshalb liebe ich meinen Beruf. Wenn man mir auch nachsagt, dass ich Formulare noch weit mehr liebe, habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich korrektes Handeln immer auszahlt. Nicht umsonst sind wir zu einem der größten Bestattungshäuser der Region avanciert, Fräulein Nina. Also: Korrekt, korrekt und nochmals korrekt! Ein abweichendes Handeln würde ich mir und auch niemand anderem jemals verzeihen.“

Er schätzte Nina vor allem wohl auch deshalb, weil bei ihr immer alles picobello sauber sein musste … selbst in der Verbrennungskammer. Einmal hätte sie sich tatsächlich beinahe darin eingeschlossen. Eine einzige Minute später – und der computergesteuerte Verbrennungsvorgang wäre gestartet und hätte aus ihr ein Häuflein Asche von etwa drei Kilo Gewicht gemacht. Na ja, sie wollte ohnehin schon lang abnehmen, hatte sie damals noch belustigt bei sich gedacht.

*

Und jetzt? Das Ergebnis seiner Aggressionen lag in diesem Moment auf dem mit seinem Blut besudelten Boden vor ihr. Komisch, dass er sich so gar nicht rührte. War er womöglich ernsthaft verletzt? Besorgt und auch etwas betroffen beugte sie sich zu ihm hinunter. Blitzschnell schlang er seine Beine um ihre Hüften, zog sie vollständig zu sich herunter und riss derart kräftig und bösartig an ihren Haaren, dass ihr vor Schmerz kurzzeitig die Luft wegblieb. Wenn er jetzt heimtückisch grinsend mit einem Bündel Haare samt Kopfhaut vor ihrer Nase herumgewedelt hätte, wäre sie wenig erstaunt gewesen. Und weil sie das Schlimmste befürchtete und sich nicht anders zu helfen wusste, biss sie ihn so heftig in den Hals, dass er vor Schmerz laut aufbrüllte. Immerhin ließ er von ihr ab.

Nein – diesmal war er einfach zu weit gegangen. Er sollte endlich am eigenen Leib erfahren, was er ihr antat. Erbarmungslos ließ sie ihre Wut mit der ganzen Kraft ihrer Fäuste mitten in sein Gesicht herniederprasseln … Schlag für Schlag. Immer wieder.

Nina kam erst zur Besinnung, als sich unter ihr nichts mehr regte. Mühsam stützte sie sich an seinen Schultern ab und ließ sich erschöpft neben ihn auf den Boden fallen. Vollkommen fertig schloss Nina die Augen. Nein, so schnell würde er sich davon nicht wieder erholen; vermutlich hatte er mit einer so starken Gegenwehr gar nicht gerechnet. … bis jetzt war ja immer SIE das Opfer gewesen. Als sie aufwachte, fühlte sie sich beobachtet … doch war es lediglich die schmale Mondsichel, die durch eines der offenstehenden Fenster einen Blick auf das Geschehen da unten riskierte. Erschrocken schaute Nina auf ihre Armbanduhr … ein Geschenk von ihm – aus der Anfangszeit ihrer Beziehung … also schon Jahre her.

Zwei Stunden waren vergangen. Sie sah sich um sich, lief durch alle Räume. Nichts. Niemand zu sehen, lediglich eine blutige Schleifspur auf dem Boden, die zur Wohnungstür führte. Sie rannte hinaus und schaute über die lange Balkonbrüstung, welche die Appartements miteinander verband. Zwar lag die Wohnung im zweiten Stock, doch konnte demjenigen, der hier hinunterstürzte, nicht viel passieren. Unten an der Hauswand wucherte jede Menge dichtes, überwiegend undurchdringliches Gebüsch, welches einen Sturz selbst aus dieser Höhe gut abfederte. Wer an dieser Stelle jedoch irgendwelche Dinge verlor, der hatte schlechte Chancen, sie wiederzufinden – vor allem im Dunkeln. Die Lampen auf den Gehwegen, die normalerweise für den Schutz nächtlicher Spaziergänger sorgen sollten, waren zum Teil schon länger ausgefallen und würden, da dies nicht unbedingt eine Upperclass-Gegend war, so schnell wohl auch nicht ersetzt werden.

Doch musste sie nicht lange nach ihm suchen. Wie zu vermuten war, hatten die Sträucher an der Hauswand seinen malträtierten Körper aufgefangen.

Nina wartete nicht lang auf den altersschwachen Aufzug – möglicherweise würde der sogar noch steckenbleiben -, sondern rannte die vier Treppen hinunter. Weshalb sie derlei absonderliche Dinge wie ein Paar Sanitätshandschuhe dabei hatte, ein kräftiges Kreppband sowie mehrere große Plastiksäcke – diese Frage stellte sie sich irgendwann auch … aber nicht in diesem Moment. Überhaupt musste er sein Blut nicht unbedingt überall hin verteilen; auch nicht auf den blühenden Sträuchern und der Wiese davor, der einzige, wirklich schöne Blickfang in dieser hässlichen Betonwüste. Sowieso müsste sie wieder mal die ganze Sauerei wegputzen, die da durch seine Schuld entstanden war, dachte sie ärgerlich. Schließlich hatte er bei irgendwelchen Aufräum- oder Putzaktionen noch nie einen Finger gerührt.

Nachdem sie es endlich unter Einsatz all ihrer Kräfte geschafft hatte, ihn an den Füßen aus dem dornigen Gestrüpp zu ziehen, war sie völlig durchgeschwitzt und musste sich erst mal auf den Boden setzen. Sie fühlte sich total zerschlagen; doch war ihr auch klar, dass sie es irgendwie zu Ende bringen musste.  Sie legte ihn auf einen der mitgebrachten Plastiksäcke; solch einen, wie Bestattungsinstitute ihn gelegentlich verwenden … wenn beispielsweise das Treppenhaus zu eng ist und ein fester Sarg nicht hindurchpassen würde. Eigentlich hatte sie schauen wollen, ob sie ihm helfen könnte, doch noch während sie ihn umherwälzte, schoss ihr plötzlich ein abenteuerlicher Gedanke durch den Kopf: Was, wenn das hier das letzte Mal wäre … das letzte Mal, dass sie ihm helfen würde – weil sie glaubte, ihm helfen zu müssen: Mit welchem Gefühl würde sie dies tun? Doch halt! Was schwirrten ihr da bloß für Gedanken durch den Kopf? … Zum letzten Mal … Ja, zum letzten Mal geschlagen – zum letzten Mal misshandelt! Keine blauen Flecken mehr, keine kaum verheilten Wunden mehr, die bei seinen nächsten Schlägen erneut aufplatzten! Sie spürte in sich hinein … War da Reue? Nein, eher ein Gefühl der Erleichterung.

In ihrem Kopf, der sich wie eine einzige brennende Wunde anfühlte – insbesondere dort, wo er sie an den Haaren gerissen hatte, wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Vorsichtig tastete sie ihre Kopfhaut nach Blutspuren ab. Waren es anfangs lediglich Gedanken, so wurden diese immer mehr zu einem Entschluss. Nie wieder sollte er so etwas ihr oder einer anderen Frau antun können.  Niemals wieder wollte sie von ihm so gedemütigt werden … und auch keine andere Frau sollte das erfahren müssen. Ihr Entschluss stand endgültig fest: Er musste weg – von der Bildfläche verschwinden! Und sie würde das jetzt in die Hand nehmen.

Mit einem kräftigen Ruck an dem Plastiksack ließ Nina den Körper wieder ins Gras zurückrollen, zog ihm diesen über den Kopf, zerrte ihn weiter, soweit es ging, über seine Schultern nach unten und verklebte das Ende mit Hilfe des Kreppbands an seinem Körper. Dann zog sie einen zweiten Sack über seine Füße nach oben und verklebte diesen ebenfalls. Nina horchte in sich hinein, war über sich selbst erstaunt. Und als sie bemerkte, dass sich in dem Sack noch etwas rührte, schlug sie ein paarmal mit der harten Handkante dorthin, wo sie seinen Hals vermutete. Sie schien gut getroffen zu haben, denn danach war Ruhe. Erledigt.

Nina starrte, von sich selbst überrascht, auf den Plastiksack vor sich. Nein, da war nichts … kein Bedauern, kein Mitgefühl. Nur ein alter Müllsack, der da vor ihr lag. …  Und was macht man mit so einem, fragte sie sich? Antwort: Man entsorgt ihn – und zwar so schnell wie möglich … bevor er zu stinken anfängt. Da am Ende der Wiese die Straße verlief, schleifte sie ihre schwere Fracht stöhnend zu den Sträuchern am Straßenrand, wo sie den Sack einigermaßen verborgen ablegen konnte.

Zum Glück hatte sie noch daran gedacht, seinen Autoschlüssel einzustecken, bevor sie seine Wohnung verließ. Seine Schrottkarre – ein anständiges Auto konnte er sich nicht leisten – parkte gleich um die Ecke. Vorsichtig fuhr sie rückwärts an das Versteck heran, lud ihn ein und fuhr erstmal ziellos ein paar Straßen weiter. Den Kopf voller widersprüchlicher Gedanken hielt sie dann am Straßenrand an – erst jetzt schien ihr die ganze Reichweite ihres Handelns bewusst zu werden. Aber sie wollte … MUSSTE … zu Ende führen, was sie da begonnen hatte – komme, was wolle. Und was hatte Monsieur Armand sie gelehrt? Nichts ist sicherer als ein Häufchen Asche, das übrigbleibt. Was war also die logische Schlussfolgerung? Ab ins Krematorium!

Nina sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Selbst Monsieur Armand, ihr so überaus gewissenhafter Brötchengeber, der es immer sehr spät werden ließ – die Buchhaltung wollte er aus Prinzip immer gerne selbst erledigen -, würde schon längst in seinem Bettchen schlummern. Die Gelegenheit war also günstig – jetzt oder nie! Sie wollte es hinter sich bringen. Endgültig. Zwar war sie es gewohnt, ihre Arbeit akkurat durchzuführen – anderes ließ auch ihr Gewissen gar nicht zu -, im vorliegenden Fall jedoch sah sie eine dringend notwendige Ausnahme von der Regel … quasi eine Art von Ausnahmezustand. Das bedeutete den Verzicht auf die amtsärztliche Leichenschau und den ganzen Klimbim. Rasch schob sie einen der herumstehenden Sperrholzsärge auf die Einschubvorrichtung – eine Art Schlitten – vor der Verbrennungskammer. Bevor sie den Körper in den Sarg plumpsen ließ, befreite sie ihn noch von den Säcken – wusste eigentlich selbst nicht, warum … vielleicht, weil sie sich ganz sicher sein wollte, dass die Zeit der Leiden nun endgültig vorüber war? Eine ganze Weile noch starrte sie auf den leblosen Körper – bis sie sich von seinem Anblick losreißen konnte und den Sargdeckel schließlich zuklappte. Sie drückte auf den Knopf für die Verbrennungsanlage, blickte erwartungsvoll durch die kleine Glasscheibe, hinter der ein Flammenmeer gleich alles besiegeln sollte … der Sarg setzte sich langsam in Bewegung. Eine zentnerschwere Last schien von ihr abzufallen … Gleich war es soweit.

Doch gab es statt der erwarteten Zündung plötzlich einen fürchterlichen Knall, Funken sprühten aus dem Sicherungskasten … und dann Stille. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Nina begriff, dass ihr Plan zunächst gescheitert war. Außerdem musste sie – pflichtbewusst, wie sie nun einmal war – sofort auch an den Verblichenen denken, der am nächsten Tag Punkt 9 Uhr hier seine letzte Reise antreten sollte – und das noch im Beisein von Angehörigen. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ihren Chef aus dem Bett zu klingeln und ihm das Malheur zu schildern.

Monsieur Armand – er lebte schon seit langem verwitwet und (auch sonst) allein in einem großen Bungalow ganz in der Nähe – versprach, gleich zu kommen. Zu ihrer Überraschung klang er gar nicht verärgert – vielleicht war ihm selbst Derartiges auch schon passiert. Vielmehr lobte er ihr Pflichtbewusstsein und drückte seinen „innigsten“ Wunsch aus, ihr bei nächster Gelegenheit auf irgendeine Weise seinen Dank ausdrücken zu dürfen. Nun, Nina hörte sich seine wohlgesetzten, warmen Worte gerne an, wusste aber auch, dass seine zunehmende Demenz ihm nicht mehr viele klare Momente bescheren würde und man folglich leider nicht mehr allzu großen Wert auf seine Aussagen legen konnte.

„Monsieur Armand, wir haben hier einen wahrhaftig armen Teufel geliefert bekommen, der so schnell wie möglich in seinen ursprünglichen Zustand – also Asche zu Asche – versetzt werden sollte. … Wie meinen Sie? Nein, er ist einer der vielen Unbekannten. Und Sie kennen doch so gut wie ich diesen Formularkrieg, bei dem wir meistens den Kürzeren ziehen. Außerdem ist von dem Körper nur noch ein einziger Fleischklumpen übrig – als ob er durch einen Fleischwolf gedrückt worden wäre … und danach wieder zusammengepresst. … Ein Sarg? Natürlich weiß ich, dass ein solcher zum einen vorgeschrieben ist und auch wegen der Verbrennungstemperatur ganz unverzichtbar ist. … Beruhigen Sie sich, Monsieur. Ich habe alles im Griff – denn schließlich waren Sie es, der mir alles beigebracht hat. (Nina wählte ganz bewusst eine sanfte, einschmeichelnde Stimmlage, um den alten Herrn nicht zu beunruhigen.) Überhaupt hätte ich das hier nicht zuletzt wegen der fortgeschrittenen Zeit selbst erledigt, Monsieur Armand, doch leider scheint da etwas mit den Sicherungen nicht zu stimmen … . Sie kennen sich doch damit bestens aus, lieber Monsieur. Wären Sie so nett? Ich gehe schon mal vor. Notfalls müssen Sie die Verbrennungsanlage manuell steuern … . Verstehen Sie, Monsieur Armand?“

Nina fragte sich, ob ihr Chef sie wohl richtig verstanden hatte. Seltsam auch, dass er, kaum dass sie das Telefonat beendet hatten, fast schon vor der Tür stand. Ob er sie bei ihren Vorbereitungen etwa heimlich die ganze Zeit über durch die Fensterscheiben beobachtet hatte … dabei vielleicht mitbekommen hatte, dass ihr „Fleischklumpen“ doch noch ganz gut in Schuss war und eben nicht alles so korrekt vor sich ging, wie es seiner, ach so heiligen Geschäftsphilosophie entsprach? Immerhin hatte sie die Rollos nicht heruntergelassen. Warum auch! Schließlich arbeiteten sie in der Regel ohnehin nur tagsüber. Hm … er hätte also jedes Detail mitbekommen können.

Auch konnte sie sein spitzbübisches Grinsen für sich nicht einordnen. Die mitternächtliche Stunde und die ganzen Umstände schienen ihn gar anzutörnen. Sie sah ihn eifrig am Sicherungskasten hantieren. „Fräulein Nina, sehen Sie bitte sicherheitshalber nach, ob in der Verbrennungskammer noch alles an seinem Platz ist. Dort, Sie wissen schon, diese kleine Öffnung da … quasi die Nottüre für Handwerker. Ich mit meiner Figur passe da niemals hindurch. Aber beeilen Sie sich! Sie wissen doch, wie leidenschaftlich gerne ich diesen gewissen Knopf drücke.“

Folgsam kroch Nina in die kleine Kammer, in der sich alsbald ein flammendes Inferno entwickeln sollte. Nicht beachtet hatte sie dabei, dass die schwere, mit Beton verstärkte Tür schräg angesetzt war – sozusagen von selbst zufiel, wenn man sie losließ; damit ja niemand vergaß, sie zu schließen und das Feuer gar nach außen dringen konnte. Ein Schloss war zwar vorhanden – einen Schlüssel besaß sie jedoch auch für diese Türe nicht. Noch während sich Nina den Kopf darüber zerbrach, hörte sie die Tür ins Schloss fallen; gleichzeitig sah sie ihren Chef zu der Apparatur mit dem Knopf gehen. 

Mein Gott, dachte sie, hoffentlich vergaß er nicht, dass sie, seine Angestellte noch in der Verbrennungskammer war!

Nina hieb mit den Fäusten gegen die dicke Tür. „Monsieur Armand … Monsieur Armand! Den Knopf noch nicht drücken … nicht drücken – auf keinen Fall! Verstehen Sie, Monsieur Armand?! Ich bin noch immer in der Verbrennungskammer! … Monsieur Armand …!“ Vermutlich hörte er sie nicht. Durch die kleine runde Scheibe gegenüber der stählernen Tür konnte sie lediglich erkennen, wie sich sein spitzbübischer Gesichtsausdruck noch etwas verstärkte, während er seinen Finger über dem besagten Knopf spielerisch kreisen ließ … doch auch dies nur noch ein paar Sekunden lang.

Ja, er liebte wohl das Feuer tatsächlich über alles – der korrekte Monsieur Armand.

Nina wurde heiß.